Ich war gerade
einmal sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal einen Leichenzug sah.
Ich spielte gerade mit einigen Jungs aus der Nachbarschaft, wir wohnten
damals in der Kirchgasse, als einer der Jungs sagte: „Achtung, die Leich kummt.“ Und da stellten sich
alle an den Straßenrand, auch ich. Mein späterer Freund, der Gerle, riss
mir die Mütze vom Kopf und sagte: „Won die Leich kummt, muscht die Kapp
runner due, bis die Leich vorbei is.“ Natürlich fragte ich später:
„Warum muss ich die Kapp runternehmen?“ Er sagte: „Du muscht dem Dode
die letscht Ehr erweise. Sonscht kriegscht Ärge mit dem Parre.“
Zur damaligen Zeit
mussten die Verstorbenen noch zu Hause aufgebahrt werden. Der Sarg stand
auf zwei Stühlen im Wohn- oder Schlafzimmer, rechts und links wurden
Kerzen aufgestellt und das Zimmer mit Blumen und Kränze geschmückt. Am
Abend hielten dann die Angehörigen und manchmal die Nachbarn die so
genannte Totenwache. Man unterhielt sich über das Leben, was man mit dem
Toten alles erlebt hatte und tauschte so seine Erinnerungen, die man mit
ihm hatte, aus.
Heute geht man mit
dem Tod anders um. Man versucht ihn zu verdrängen und denkt, es erwischt
immer die anderen. Heute ist es so, dass die meisten Leute in Kliniken
oder Hospizen und die wenigsten im eigenen Haus versterben. Wenn ein
Familienmitglied in der Klinik verstirbt, dann wird der Bestatter
beauftragt, der fast alles regelt, bis hin zu den Trauerfeierlichkeiten.
Der Bestatter holt den Verstorbenen aus der Klinik und bringt ihn sofort
in die Leichenhalle, wo er dann bis zu seiner Grablegung gekühlt
aufbewahrt wird. Man sieht also, der größte Teil einer Beerdigung wird
heute gegen Entgelt erledigt.
Das war bis zum Bau
der Leichenhalle und der Kapelle im Jahre 1964 hier nicht so. Die
Ehefrau des Mannes, der hier die Leichenkutsche fuhr, erzählte mir, dass
dies ein sehr harter Beruf war. Sie erzählte, dass die Kutschpferde,
wenn sie ein paar Tage nicht arbeiten mussten, ziemlich wild waren. Aber
wenn sie dann das geputzte Zaumzeug mit den schwarzen Federbüscheln und
die schwarzen Decken überbekamen, wurden sie sofort lammfromm als
wüssten sie, dass sie jetzt im Schritttempo gehen müssen und es schien,
als könnten sie die Trauer spüren.
Wenn in dieser Zeit
jemand im Krankenhaus verstarb, fuhr ihr Mann morgens um halb vier nach
Mannheim, Heidelberg oder Weinheim, um den Verstorbenen mit seinen
Pferden und der Leichenkutsche abzuholen, um ihn dann ins Trauerhaus zu
bringen, wo man ihn aufbahrte. Man kann sich vorstellen, dass dies im
Hochsommer ganz schön anstrengend war und viele Probleme aufwarf. Und
zwar die Kühlung, da bei den hochsommerlichen Temperaturen die
Zersetzung des Leichnams schneller einsetzte. Eine ältere Dame erzählte
mir, dass man bei ihnen in der Gastwirtschaft immer Eis holte, das dann
in den Sarg zu dem Verstorbenen gegeben wurde, um die Zersetzung etwas
zu verlangsamen.
Wenn der
Leichenwagen durch die Straßen fuhr, kamen die Leute aus ihren Häusern
und schlossen sich einfach der Trauergemeinde an. Je nach
Bekanntheitsgrad des Verstorbenen war der Leichenzug manchmal so lang,
dass die Kirchgasse nicht ausreichte. Es dauerte meist Stunden, bis man
wieder zu Hause war.
Vielen Dank meiner
Schulkameradin Hildegard, die mir eine Begebenheit wieder ins Gedächtnis
rief. Wenn früher einer der Honoratioren verstarb, ging dem Leichenzug
die Musikkapelle voraus, die Trauermusik spielte und am Grab vielleicht
noch ein Lied, das sich der Verstorbene vor seinem Ableben gewünscht
hatte. Aber wenn die Beerdigung abgeschlossen war und sich die Kapelle
auf dem Nachhauseweg befand, wurde die Musik plötzlich sehr fröhlich.
Das fiel uns das erste Mal auf, als unser Klassenlehrer, Herr Englert,
beerdigt wurde. Zu dieser Zeit fanden wir das eigentlich unpassend,
fröhliche Musik zu machen. Aus heutiger Sicht ist mir das verständlich.
Der Tod hatte zwar einen aus unserer Mitte genommen, wir lassen uns
durch ihn aber nicht einschüchtern. Dies zeigen wir ihm durch fröhliche
Musik.
Heute ist es
einfacher. Man schaut in die Zeitung oder ins Mitteilungsblatt der
Gemeinde und sieht, um 14 Uhr zum Beispiel ist die Beerdigung. Man fährt
dann mit dem Auto zum Friedhof, trägt sich ins Kondolenzbuch ein, nimmt
am Trauergottesdienst teil und vielleicht geht man noch mit ans Grab.
Dann fährt man wieder nach Hause - es ist meist nur eine Angelegenheit
von knapp einer Stunde.
Meine Großmutter
erzählte mir auch von einem seltsamen Brauch der aus dem 17. oder 18.
Jahrhundert stammen sollte: in ihrer Heimat, sie stammte aus Königsberg,
wenn da ein Angehöriger im Sterben lag oder krank war, drehte man ihn
mit seinem Bett mit dem Kopfende zur Tür. Weil der Tod dann sein Gesicht
nicht sehen konnte, musste er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Sie
sagte, sie hätte es oft erlebt, dass der Todkranke nach ein paar Tagen
wieder bei guter Gesundheit war. Ich kann es nicht glauben, aber sie war
davon überzeugt.
Es war zu der
damaligen Zeit ein intensiverer Abschied als es heute der Fall ist. Der
Tod war auf diese Weise im täglichen Leben bei Erwachsenen und Kindern
im Hinterkopf immer gegenwärtig. Ob es sich um Vater, Mutter, Opa, Oma
oder Geschwister handelte, man starb in dieser Zeit im allgemeinen noch
im eigenen sozialen Umfeld, im Beisein der nächsten Angehörigen,
vielleicht noch des Hausarztes und des Pfarrers. Ich glaube, der
Abschied vom Leben fiel so den Sterbenden leichter als heute in einem
Krankenhaus, in einem sterilen, weißen Zimmer, wo er dann oft alleine
diesen schweren Weg gehen muss, weil es die Angehörigen nicht mehr
schafften, zu ihm zu kommen, weil sie vielleicht zu spät benachrichtigt
oder im Verkehr stecken geblieben sind. Ich stelle es mir sehr grausam
vor, nur von fremden Menschen umgeben, diesen schweren Weg gehen zu
müssen. Aber es ist nun einmal so. Der Tod wartet leider nicht, bis die
Lieben anwesend sind.
Der Umgang mit dem
Tod ist heutzutage größtenteils kommerzialisiert. Alles was bleibt, ist
die persönliche Trauer und der Schmerz, einen geliebten Menschen
verloren zu haben. Deswegen gibt es auch hier schon Selbsthilfegruppen
und Psychologen, um die Trauer so schnell wie möglich abzuschließen.
Früher sagte man, die Zeit heilt alle Wunden, auch die seelischen. Durch
die Konfrontation mit dem Sterbenden, seinem nahenden Tod, sein ihn bis
ans Ende Begleiten, war die Trauerarbeit früher natürlicher und ich
persönlich finde, auch intensiver.
Vor kurzem hörte ich
von einem Künstler, der über den Tod befragt wurde den Spruch: „Der Tod
ist etwas absolut Dummes, was Blödes, für mich ist der Tod das
Allerletzte.“ Es dauerte eine Weile, bis die Zuhörer diesen Satz
begriffen.
Willi Eck
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