„Achtung, die Leich kummt!“

 

Als ich 1943 von Saarburg über St. Wendel nach Großsachsen kam, war vieles für mich neu.

Ich war gerade einmal sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal einen Leichenzug sah. Ich spielte gerade mit einigen Jungs aus der Nachbarschaft, wir wohnten damals in der Kirchgasse, als einer der Jungs sagte: „Achtung, die Leich kummt.“ Und da stellten sich alle an den Straßenrand, auch ich. Mein späterer Freund, der Gerle, riss mir die Mütze vom Kopf und sagte: „Won die Leich kummt, muscht die Kapp runner due, bis die Leich vorbei is.“ Natürlich fragte ich später: „Warum muss ich die Kapp runternehmen?“ Er sagte: „Du muscht dem Dode die letscht Ehr erweise. Sonscht kriegscht Ärge mit dem Parre.“

Zur damaligen Zeit mussten die Verstorbenen noch zu Hause aufgebahrt werden. Der Sarg stand auf zwei Stühlen im Wohn- oder Schlafzimmer, rechts und links wurden Kerzen aufgestellt und das Zimmer mit Blumen und Kränze geschmückt. Am Abend hielten dann die Angehörigen und manchmal die Nachbarn die so genannte Totenwache. Man unterhielt sich über das Leben, was man mit dem Toten alles erlebt hatte und tauschte so seine Erinnerungen, die man mit ihm hatte, aus.

Heute geht man mit dem Tod anders um. Man versucht ihn zu verdrängen und denkt, es erwischt immer die anderen. Heute ist es so, dass die meisten Leute in Kliniken oder  Hospizen und die wenigsten im eigenen Haus versterben. Wenn ein Familienmitglied in der Klinik verstirbt, dann wird der Bestatter beauftragt, der fast alles regelt, bis hin zu den Trauerfeierlichkeiten. Der Bestatter holt den Verstorbenen aus der Klinik und bringt ihn sofort in die Leichenhalle, wo er dann bis zu seiner Grablegung gekühlt aufbewahrt wird. Man sieht also, der größte Teil einer Beerdigung wird heute gegen Entgelt erledigt.

Das war bis zum Bau der Leichenhalle und der Kapelle im Jahre 1964 hier nicht so. Die Ehefrau des Mannes, der hier die Leichenkutsche fuhr, erzählte mir, dass dies ein sehr harter Beruf war. Sie erzählte, dass die Kutschpferde, wenn sie ein paar Tage nicht arbeiten mussten, ziemlich wild waren. Aber wenn sie dann das geputzte Zaumzeug mit den schwarzen Federbüscheln und die schwarzen Decken überbekamen, wurden sie sofort lammfromm als wüssten sie, dass sie jetzt im Schritttempo gehen müssen und es schien, als könnten sie die Trauer spüren.

Wenn in dieser Zeit jemand im Krankenhaus verstarb, fuhr ihr Mann morgens um halb vier nach Mannheim, Heidelberg oder Weinheim, um den Verstorbenen mit seinen Pferden und der Leichenkutsche abzuholen, um ihn dann ins Trauerhaus zu bringen, wo man ihn aufbahrte. Man kann sich vorstellen, dass dies im Hochsommer ganz schön anstrengend war und viele Probleme aufwarf.  Und zwar die Kühlung, da bei den hochsommerlichen Temperaturen die Zersetzung des Leichnams schneller einsetzte. Eine ältere Dame erzählte mir, dass man bei ihnen in der Gastwirtschaft immer Eis holte, das dann in den Sarg zu dem Verstorbenen gegeben wurde, um die Zersetzung etwas zu verlangsamen.

Wenn der Leichenwagen durch die Straßen fuhr, kamen die Leute aus ihren Häusern und schlossen sich einfach der Trauergemeinde an. Je nach Bekanntheitsgrad des Verstorbenen war der Leichenzug manchmal so lang, dass die Kirchgasse nicht ausreichte. Es dauerte meist Stunden, bis man wieder zu Hause war.

Vielen Dank meiner Schulkameradin Hildegard, die mir eine Begebenheit wieder ins Gedächtnis rief. Wenn früher einer der Honoratioren verstarb, ging dem Leichenzug die Musikkapelle voraus, die Trauermusik spielte und am Grab vielleicht noch ein Lied, das sich der Verstorbene vor seinem Ableben gewünscht hatte. Aber wenn die Beerdigung abgeschlossen war und sich die Kapelle auf dem Nachhauseweg befand, wurde die Musik plötzlich sehr fröhlich. Das fiel uns das erste Mal auf, als unser Klassenlehrer, Herr Englert, beerdigt wurde. Zu dieser Zeit fanden wir das eigentlich unpassend, fröhliche Musik zu machen. Aus heutiger Sicht ist mir das verständlich. Der Tod hatte zwar einen aus unserer Mitte genommen, wir lassen uns durch ihn aber nicht einschüchtern. Dies zeigen wir ihm durch fröhliche Musik.

Heute ist es einfacher. Man schaut in die Zeitung oder ins Mitteilungsblatt der Gemeinde und sieht, um 14 Uhr zum Beispiel ist die Beerdigung. Man fährt dann mit dem Auto zum Friedhof, trägt sich ins Kondolenzbuch ein, nimmt am Trauergottesdienst teil und vielleicht geht man noch mit ans Grab. Dann fährt man wieder nach Hause - es ist meist nur eine Angelegenheit von knapp einer Stunde.

Meine Großmutter erzählte mir auch von einem seltsamen Brauch der aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stammen sollte: in ihrer Heimat, sie stammte aus Königsberg, wenn da ein Angehöriger im Sterben lag oder krank war, drehte man ihn mit seinem Bett mit dem Kopfende zur Tür. Weil der Tod dann sein Gesicht nicht sehen konnte, musste er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Sie sagte, sie hätte es oft erlebt, dass der Todkranke nach ein paar Tagen wieder bei guter Gesundheit war. Ich kann es nicht glauben, aber sie war davon überzeugt.

Es war zu der damaligen Zeit ein intensiverer Abschied als es heute der Fall ist. Der Tod war auf diese Weise im täglichen Leben bei Erwachsenen und Kindern im Hinterkopf immer gegenwärtig. Ob es sich um Vater, Mutter, Opa, Oma oder Geschwister handelte, man starb in dieser Zeit im allgemeinen noch im eigenen sozialen Umfeld, im Beisein der nächsten Angehörigen, vielleicht noch des Hausarztes und des Pfarrers. Ich glaube, der Abschied vom Leben fiel so den Sterbenden leichter als heute in einem Krankenhaus, in einem sterilen, weißen Zimmer, wo er dann oft alleine diesen schweren Weg gehen muss, weil es die Angehörigen nicht mehr schafften, zu ihm zu kommen, weil sie vielleicht zu spät benachrichtigt oder im Verkehr stecken geblieben sind. Ich stelle es mir sehr grausam vor, nur von fremden Menschen umgeben, diesen schweren Weg gehen zu müssen. Aber es ist nun einmal so. Der Tod wartet leider nicht, bis die Lieben anwesend sind.

Der Umgang mit dem Tod ist heutzutage größtenteils kommerzialisiert. Alles was bleibt, ist die persönliche Trauer und der Schmerz, einen geliebten Menschen verloren zu haben. Deswegen gibt es auch hier schon Selbsthilfegruppen und Psychologen, um die Trauer so schnell wie möglich abzuschließen. Früher sagte man, die Zeit heilt alle Wunden, auch die seelischen. Durch die Konfrontation mit dem Sterbenden, seinem nahenden Tod, sein ihn bis ans Ende Begleiten, war die Trauerarbeit früher natürlicher und ich persönlich finde, auch intensiver.

Vor kurzem hörte ich von einem Künstler, der über den Tod befragt wurde den Spruch: „Der Tod ist etwas absolut Dummes, was Blödes, für mich ist der Tod das Allerletzte.“  Es dauerte eine Weile, bis die Zuhörer diesen Satz begriffen.

Willi Eck