Der Großvater

Im Jahr 1944 zogen wir in die Kirchgasse in das Haus Nummer 27 ein.
 

Es war ein Bauernhof, der ging von der Kirchgasse bis zur Breitgasse durchgängig. Das ganze Anwesen gehörte der Familie Bitzel. Der Senior der Familie hieß Martin und wurde von allen Kindern in seinem Umfeld „der Großvater“ genannt.

Als ich ihn zum ersten Mal kennen lernte, ist mir noch gut in Erinnerung. Er sah mich und sagte: “Gell, Du bist mit Deiner Mutter bei uns ins alte Haus gezogen.“ Ich sagte: „Ja.“ Er sagte: „Deine Mutter kenne ich ja schon. Und wie heißt Du denn?“ Ich sagte: „Willi“. „Aha, was hast Du mit Deinem Bein gemacht? Hast Du eingebüßt (Schaden genommen)?“ Ich fragte: „Was ist eingebüßt?“ und er erklärte es mir.

 Ich fing an zu erzählen und plötzlich sagte er: „Ich glaube, das ist eine etwas längere Geschichte, aber wir können es so machen, ich fahre jetzt aufs Feld zum Pflügen und wenn Du willst, kannst Du mitfahren und dann kannst Du mir weiter erzählen.“

Ich war begeistert. Bis dato war ich noch nie auf einem Pferdefuhrwerk gefahren, sagte aber: „Ich muss erst meine Mutter fragen.“ Die erlaubte es und fragte den Großvater: „Ist er Ihnen auch keine Last?“ Er sagte: „Nein, nein, wir haben uns gerade so gut unterhalten.“ Ich krabbelte auf den Wagen und war begeistert. Ich erzählte eifrig weiter. Ab und zu unterbrach er mich und fragte nach. Ich weiß noch, wir fuhren den Ladenburger Weg etwa einen Kilometer lang, dann kam rechts der Acker, zu dem wir fuhren.  Ich war auch so ziemlich am Ende mit meinem Erzählen.

Der Großvater sagte zu mir: „Da hat unser Herrgott Dich aber schon schwer geprüft, aber es hat alles seinen Sinn.“ Mit dieser Antwort konnte ich damals als knapp Siebenjähriger nicht viel anfangen.

Danach sagte er zu mir: „Du hältst jetzt die Pferde und ich spanne sie aus. Und wenn ich – Jetzt – sage, gehst Du mit den Pferden drei Schritte vor, dass ich den Pflug anspannen kann.“ Ich bekam einen Riesenschreck und sagte: „Das kann ich nicht, ich habe Angst, dass die Pferde mich beißen und vielleicht wegrennen.“ Er redete begütigend auf mich ein und sagte: „Die tun Dir nichts.“ Er ging nach vorn, packte die Pferde am Halfter und sagte: „Komm her und halte sie so wie ich.“

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und tat es so, wie er es mir gezeigt hatte. Er sagte: „Jetzt redest Du mit ihnen und streichelst sie, dass sie Deinen Geruch aufnehmen und Dich kennen lernen können.“ Er stellte mir die Pferde vor: „Der Dunkelbraune, das ist Fritz und der Hellbraune Hans.“ Er ging dann wieder zurück, spannte sie aus, ich hatte sie noch am Halfter, wie er es mir gezeigt hatte und er sagte: „Jetzt“ und ich zog am Halfter und sagte „Hüh“, und siehe da, die zwei gingen willig nach vorn und ich war so begeistert, dass ich vergaß zu halten. Der Großvater rief: „Halt, halt, wo willst Du denn hin?“ Ich hielt an und sagte: „Wau, dass war eine Sensation für mich.“ Die zwei riesigen Pferde hatten auf mich gehört.

Und als wir dann mit der Arbeit auf dem Acker fertig waren, durfte ich auf dem Nachhauseweg die Pferde führen. Er erklärte mir die Kommandos und dann ging es los. Ich war unheimlich stolz, war noch etwas unsicher, aber ich habe den Weg nach Hause geschafft. Als wir Zuhause ankamen, spannte er die Pferde aus, nahm ihnen das Geschirr ab und rieb sie mit einem Büschel Stroh ab. Dann gab es einen Klaps auf die Hinterhand und sie trotteten allein in ihren Stall zurück wo sie ihr Futter bekamen und viele gute Worte. Ich habe alles aufmerksam beobachtet und fragte den Großvater: „Verstehen die Dich, wenn Du mit ihnen redest?“ Er sagte: „Klar, pass mal auf.“ Er legte seine Hand auf die Hinterhand und sagte: „Fritz, mach mal Platz.“ Der ging willig zur Seite. Ich war erstaunt und dachte: Der Großvater kann mit den Pferden reden und die verstehen ihn sogar. Ich nahm mir vor, das auch zu lernen. Wann immer ich die Pferde sah, sprach ich mit ihnen und bekam nach und nach ein Gefühl für die Tiere.

Nur einmal passierte mir noch ein Fehler. Ich hatte Zuhause vier Stück Würfelzucker gemopst, schlich mich in den Pferdestall, um den beiden den Zucker zu bringen und machte den Fehler, die Pferde von hinten anzugehen. Prompt schlug der Dunkelbraune aus, zehn Zentimeter an meiner rechten Schulter vorbei. Der Großvater bekam das mit und erklärte mir: „Das ist ein Reflex aus der Urzeit der Pferde auf Gefahr. Du musst reden, damit er weiß, dass Du es bist, der da ankommt.“ Ich probierte es gleich aus. Und siehe, beide waren lammfromm und fraßen mit Genuss ihren Zucker. Der Dunkelbraune, Fritz, war der Dominantere und hatte immer irgendwelchen Unfug im Kopf. Eine Zeitlang, wenn ich in seine Nähe kam, zeigte er die Zähne und tat so, als wolle er nach mir schnappen. Ich erschrak jedes Mal und flitze auf die Seite, bis der Großvater zu mir sagte: „Der macht sich einen Spaß daraus, weil Du immer einen Satz zur Seite machst. Bleib stehen, und gib ihm einen Nasenstüber und Du wirst sehen, er lässt es sein.“ Beim nächste Mal, als er es wieder probierte, bekam er seinen Nasenstüber und siehe da, er schnaubte kurz und ließ es von da an sein.

Ich lernte vom Großvater mit den Tieren umzugehen. Er brachte mir auch die Natur sehr nahe, für die ich bis dahin als Stadtkind kein Verständnis hatte. Ich lernte durch ihn meine Umwelt kennen. Wenn ich eine Spinne oder ein anderes Insekt sah, wurde es sogleich getötet. Er sah es und fragte mich: „Warum hast Du das gemacht? Hat die Spinne Dir etwas getan?“ Ich sagte: „Nein, aber die ist doch zu nichts nütze.“ Er sagte: „Das denkst Du. Alles, was auf der Erde lebt wurde von unserem Herrgott erschaffen und hat seinen Nutzen. Du musst ihn nur erkennen und Beobachten lernen.“ Das brachte mich zum Nachdenken. Ich beobachtete eine dicke Kreuzspinne in ihrem Netz und sah, dass sie Fliegen fing. Ich sah auch, dass die Schwalben Fliegen fingen. Jetzt verstand ich auch, warum der Großvater im Stall an der Decke Nistbretter angebracht hatte, worauf die Schwalben ihre Nester bauten. Diese fingen im Kuhstall dann die Fliegen, sodass die Kühe dann mehr Ruhe vor diesen Plagegeistern hatten. Ich begriff das Prinzip und entdeckte fast alle Tage etwas Neues und erzählte dem Großvater dann meine Entdeckungen. Er sagte zu mir: „Jetzt hast Du es begriffen, dass jedes Tier seinen Nutzen hat.“

Aber es ging weiter. Als wir wieder einmal auf das Feld fuhren, machte er plötzlich Halt und sagte: „Siehst Du den Acker da auf der linken Seite? Steig mal ab, nimm eine Handvoll Erde, zerreibe sie zwischen Deinen Händen, rieche daran und lecke etwas mit der Zunge von dieser Erde, merke Dir den Geruch und Geschmack und steig wieder auf.“ Er fragte dann: „Wie riecht die Erde?“ Ich sagte: „sauer“ und sie schmeckte auch sauer. Ich sagte: „Großvater, jetzt habe ich die Erde im Mund.“ Er nahm aus dem Korb eine Keramikflasche und sagte zu mir: „Nimm einen Schluck und spül Deinen Mund aus.“ Es war Apfelmost mit Wasser verdünnt. Statt auszuspucken habe ich das Ganze geschluckt. Die Erde war mir egal. Nach etwa eineinhalb Kilometer musste ich wieder absteigen und die ganze Prozedur begann von neuem. Ich roch wieder an der Erde und schmeckte sie. Sie roch wie gemahlene Nüsse und der Geschmack war ähnlich halbreifer Nüsse. Ich spülte wieder und spuckte es diesmal aus. Der Großvater sagte: „Siehst Du, das ist jetzt gute Erde, die ist natürlich gedüngt und das Feld vorhin war schlechte Erde und chemisch gedüngt. Merke Dir das, wenn Du einmal einen Garten oder ein Feld hast, kannst Du immer feststellen, ob die Erde etwas taugt.“

Ganz interessant wurde es, wenn ich mit dem Großvater Grünfutter für die Kühe holen ging. Auf einer Wiese, die lag unterhalb vom Friedhof direkt an der B 3. Er packte die Sense auf den Wagen, holte seinen Schleifstein und einen Rechen und dann ging es los. Als wir bei der Wiese angekommen und abgestiegen waren, ging er in die Wiese und sagte: „Komm mal her zu mir, ich möchte Dir etwas erklären.“ Er zeigte mir alle Kräuter auf der Wiese, sagte mir, wie sie hießen und für was sie gut sind und er wusste auch die lateinischen Namen zu jedem Kraut und erklärte mir, wie man sie zubereiten muss: „Man muss sich bei Pflanzen immer die richtige Dosierung und wie man sie zubereitet merken. Merke Dir das gut, denn die Dosis macht das Gift.“ Später erfuhr ich von seinem Enkelsohn, dass er das Latinum hatte, deswegen wusste er auch alle lateinischen Namen der Pflanzen und konnte Latein lesen. Alle meine Lehrer konnten mir in meiner gesamten Schulzeit die Natur nicht so nahe bringen wie der Großvater.

Immer, wenn ich Zeit hatte, fuhr ich mit ihm aufs Feld, außer im Spätjahr, wenn er die Jauchengrube leer machte und das Feld düngte. Da streikte ich, obwohl das damals für alle Bauern normal war. Es gab zu dieser Zeit noch keine Toiletten wie heute und als Papier gab es nur Zeitungen. Heut undenkbar, aber damals war es halt so. Und zu dieser Zeit herrschte noch Krieg und da war eben alles knapp. Der Großvater war auch so etwas wie ein Visionär. „Du wirst noch sehen, wie sich alles verändert. Heute gibt es im ganzen Ort nur sechs Autos. Es werden später ein paar Tausend sein und die Menschen werden die Natur immer weniger achten. Sie werden nicht mehr so leben wie wir, werden die Natur nicht mehr begreifen. Dabei hat unser Herrgott uns allen den Verstand gegeben und einen freien Willen. Aber er hat anscheinend vergessen, vielen Menschen dafür eine Gebrauchsanleitung mitzugeben.“ Ich habe damals gesagt: „Großvater, wo sollen denn die vielen Autos herkommen.“ und er sagte zu mir: „Du bist ja sehr viel jünger wie ich, Du wirst es erleben“ Er war damals so alt wie ich heute – schon paradox. 60 Jahre mussten vergehen, bis ich alles aufschrieb. Heute weiß ich, er hatte recht und ich glaube, wenn er sehen könnte, was heute täglich abläuft, würde er sagen: „Seid ihr denn alle verrückt geworden?“ Ich glaube, er hätte da nicht ganz Unrecht.

Der Großvater war ein sehr frommer Mann und ich habe nie mehr einen Menschen getroffen, der seinen Glauben so ernst gelebt hatte und sein Leben so mit Sinn erfüllte. Ich habe ihn zum Beispiel nie Fluchen gehört oder er hat auch nie eines seiner Tiere geschlagen. Außer bei einem Tier, einem riesigen Eber, den er zum belegen der Säue brauchte. Da ging auch er nicht ohne einen dicken Stock in den Stall. Dieser Eber war das Böse „in Person“. Der Großvater sagte immer: „Der ist vom Teufel besessen.“ Dieser Eber hatte eine Schulterhöhe von etwa 120 cm, kleine tückische Augen, ein riesiges Maul und er strömte immer einen furchtbaren Gestank aus, eine Mischung von Maggie, Urin und faulen Eiern, einfach furchtbar. Wenn dieses Untier im Hof herum rannte, bin ich immer auf einen Wagen gekrabbelt, wo ich wusste, dass er mich nicht erreichen konnte. Aber selbst da hatte er noch versucht, den Wagen anzuheben, was ihm zum Glück nicht gelang. Der Großvater sagte: „Pass bloß auf, dass er Dich nicht erwischt, der könnte Dir den Fuß abbeißen.“ Dieses Vieh versuchte sogar den Großvater anzugreifen. Aber der drohte ihm immer mit diesem dicken Stock und sagte: „Komm nur her, dann gibt es Prügel.“ Das überlegte sich der Eber anscheinend und so ungefähr zwei Meter vor ihm machte er halt, grunzte und schrie, wusste aber anscheinend: Wenn ich jetzt weitergehe, setzt es was. Nach circa anderthalb Jahren wurde er Gott sei Dank verkauft und ich war froh darüber. Dieses Vieh war gefährlich.

Das Einzige Mal, wo ich ihn Böse erlebt habe, war, wo wir Kinder in der Scheune herumgepurzelt sind und alle Strohballen aufgeschnitten hatten, sodass in der Scheune ein heilloses Chaos und eine Mischung aus Heu und Stroh entstanden war. Er war stinksauer: „Ihr Saububen, ihr elenden.“ Aber nach einer halben Stunde war alles wieder in Ordnung und erklärte uns, dass man Heu nicht als Einstreu verwenden kann.

Ich bewunderte immer seine Weitsicht. Es war noch Krieg und es kamen immer Leute aus der Stadt und wollten Kartoffel kaufen. Er sagte: „Ich verkaufe keine. Ich gebe Ihnen einen Setzkorb voll und die gebe ich Ihnen, dass Sie nicht hungern müssen.“ Wenn die Leute weg waren fragte ich den Großvater: „Den hättest Du auch mehr geben können.“ Er sagte: „Ja, aber es kommen bestimmt noch mehr Leute und die wollen ja auch noch was haben.“ Ich war erstaunt, so weit hatte ich nicht gedacht.

Was ich ganz vergessen habe zu erwähnen: Wenn ich mit ihm aufs Feld fuhr, wurde immer, nachdem die Hälfte der Arbeit geschafft war, gevespert und er teilte immer sein Brot mit mir. Manchmal sagte er scherzhaft: „Sag mal, wo isst Du das denn alles hin? Ich glaube fast, Du hast zwei Mägen.“ Und oft meinte er: „Ach du liebe Zeit, da ist ja noch ein ganzes Brot übrig, das wird bestimmt schlecht, es sei denn, Du könntest es auch noch packen.“ Ich sagte natürlich: „Klar, das packe ich auch noch.“ Mit dem Großvater zu vespern war für mich das Größte. Meine Mutter arbeitete auch bei der Familie, beim Tabak einnähen, Distelstechen, verschiedene Felder mussten auch gehackt werden und vom Unkraut befreit und ich durfte dann auch mittags mitessen. Das war super. Die Frau vom Großvater hieß Marie. Aber wir Kinder nannten sie alle Großmutter. Ich redete sie einmal mit ihrem Nachnamen an und sie sagte: „Wirst Du jetzt vornehm? Oder was soll das? Du hast die ganze Zeit Großmutter gesagt, mach das auch weiterhin.“

Es gab des Öfteren Arbeiten wo ich nicht mitfahren konnte, wo die Knechte mitgingen, zum Beispiel bei besonders schweren Arbeiten. Dann kam die Großmutter und fragte: „Willst Du mit mir in den Garten gehen? Du könntest mir helfen beim Gießen und beim Unkraut jäten.“ Sie sagte: „Richte das Scheesewägel mit zwei Gießkannen und einer Hacke und einem Rechen.“ Dann gingen wir in den Garten. Der lag in den Hinterbangertsgärten und zog sich hinter der heutigen Metzgerei Salbinger den ganzen Hang hoch bis zur katholischen Kirche. Inmitten des Gartens zog sich ein Pfad bis ganz nach oben und zu beiden Seiten lagen die Beete. Vier bis fünf Beete waren mit Blumen bepflanzt wie Astern, Dahlien, Sonnenblumen, Nelken, Tränende Herzen, Pfingstrosen, Fresien, Tulpen und so weiter. Es waren richtig bunte Beete und irgendetwas blühte immer. Die restlichen Beete waren mit Salat, verschiedenen Kohlarten, Rettich und Radieschen, Rhabarber usw. bepflanzt, alles, was man so in der Küche je nach Jahreszeit brauchte. Heute würde man sagen: Ein richtiger Bauerngarten. Da gab es immer viel zu tun: Gießen, Unkraut jäten und neue Pflanzen setzen.

Ich weiß noch, ich hatte einmal in sehr kurzer Zeit ein halbes Beet, wie ich dachte, vom Unkraut befreit. Ich sagte stolz: „Großmutter, guck mal, ich hab schon die Hälfte fertig.“ Sie schaute und sagte; „Ach du lieber Gott, Bub, Du hast ja die ganzen Radieschen, die ich vor vier Wochen gesät habe, herausgerissen.“ Ich sagte: „Oh, das habe ich nicht gewusst, dass dies Radieschen sind. Ich setze sie alle wieder ein.“ Sie sagte: „Oh je, dann mach mal. Das wird was werden.“ Ich setzte sie wieder ein und habe sie auch gut gegossen und siehe da, der größte Teil ist wieder angegangen und wuchs weiter und brachte schöne, dicke Radieschen. Die Großmutter meinte: „Da hast Du noch einmal Glück gehabt.“ Ich lernte vieles von ihr. Zum Beispiel, dass man Zwiebel jedes Jahr in ein anderes Beet stecken musste usw. Als ich später einen eigenen Garten hatte, war mir dieses Wissen von großem Nutzen. Sie sagte so nach zwei, zweieinhalb Stunden: „So, das reicht für heute, jetzt gehen wir nach Hause und essen etwas.“

Auf dem Nachhauseweg erzählte sie mir dann: „Ich muss heute noch buttern.“ Ich sagte: „Vielleicht kann ich Dir ja helfen.“ Sie sagte: „Oh, das wäre gut. Wenn Du willst?“ Und dann ging es los. Sie kam mit einem schmalen Butterfass aus Holz, etwa 70 cm hoch, wo sie den Rahm aus einem großen Keramikgefäß hineinschüttete, dann kam ein Holzdeckel auf das Ganze, wo oben ein Stiel herausschaute. Die Großmutter sagte: „Jetzt packst Du diesen Stiel und bewegst ihn rauf und runter.“ Ich fragte sie: „Ist das alles?“ Sie sagte: „Ja, mach langsam, das ist nicht leicht und Du musst durchhalten, bis die Butter fertig ist.“ Ich dachte noch: Das mach ich doch mit Links. Aber nach drei Minuten wechselte ich schon von der einen in die andere Hand. Ich wurde merklich stiller. Nach weiteren fünf Minuten brauchte ich beide Hände und es wurde immer schwerer. Ab und zu schaute sie nach und sagte: „Du musst so lange weitermachen, bis Du den Stil nicht mehr bewegen kannst.“ Ich kann Euch sagen, das war ganz schön schwer. Aber nach ca. 25 Minuten hatte ich es geschafft. Sie öffnete den Deckel und zog langsam den Stiel aus dem Fass. Und siehe da, es klebten dicke Klumpen von Butter daran. Die formte sie zu handlichen Stücken, packte sie in Butterbrotpapier ein und brachte sie dann in den Keller, wo sie kühl und frisch blieben. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, wie schwer und wie anstrengend das Buttern ist.

Um es nicht zu vergessen, die Großmutter buk das beste Brot, kochte den besten Latwerker und Zuckerrübensirup und machte einen erstklassigen Quark, bis heute unerreicht. Ich habe wiederholt versucht, diese Spezialitäten zu kopieren, bin aber kläglich gescheitert. Mir ist nur eines in schlechter Erinnerung, und das gab es zum Glück ganz selten: Das war Brot mit einem Aufstrich aus Apfelbrei. Das habe ich nur im äußersten Notfall gegessen. Und das hatte seinen Grund. Aß man mehr als ein Stück, bekam man solche Blähungen, dass man die Hose festhalten musste. Und ließ man den Winden freien Lauf, konnte es einem passieren, dass man eine frische Hose brauchte. Mein Freund, der Gerle, konnte ein Lied davon singen. Er hatte als erstes diese leidvolle Erfahrung gemacht.

Aber nun, um nicht weiter abzuschweifen, zurück zur Großmutter. Sie war auch eine sehr fromme Frau. Manchmal etwas laut aber sie hatte immer eine Beschäftigung für uns. Wenn man sie zu nehmen wusste, war sie ganz umgänglich. Sie passte auch ausgezeichnet zum Großvater. Die beiden waren ein grandioses Paar.

Jetzt wieder zurück zum Großvater. Der hatte manchmal den Schalk im Nacken und meinen Freund Gerle und mich gewaltig auf den Arm genommen. Er erzählte uns, dass am Anfang und am Ende eines Regenbogens immer ein Schatz vergraben sei: „Dies merkt man, dass sich dann das Sonnenlicht im Glanze des Goldes und des Geschmeides bricht und so der Regenbogen entsteht. Man braucht nur zum Anfang oder zum Ende des Regenbogens zu gehen, um den Schatz zu holen.“

Mein Freund und ich waren Feuer und Flamme und überlegten sofort, wie wir diesen Schatz nun teilen und bekamen fast Streit. Wir wollten jeder für sich ein Schloss kaufen, 30 Pferde und was noch nicht alles. Der Großvater hörte uns zu und sagte gar nichts, er schmunzelte nur ab und zu. Endlich, nach zehn Tagen war es soweit. Ein Regenbogen war zu sehen. Wir sahen in beide gleichzeitig. Der Regenbogen spannte sich aus der Richtung Ritschweier in Richtung Ladenburg. Wir dachten, da ist das Ende des Regenbogens und rannten los in Richtung Ladenburg. Als wir an der Kreuzung, wo der Weg von Leutershausen nach Heddesheim und der frühere Ladenburger Weg sich kreuzten, machten wir Pause und merkten: Das Ende des Regenbogens war immer noch in weiter Ferne. Wir kamen beide zu dem Schluss, dass das vielleicht Ludwigshafen oder gar die Pfalz sei. In mir keimte so leise der Verdacht, dass der Großvater uns beide angemeiert hatte. Gerle sagte noch: „Das glaube ich nicht.“ Wir trotteten beide müde und enttäuscht nach Hause. Ich erzählte die Geschichte meiner Mutter. Die lachte und sagte: „Da hat der Großvater Euch ganz schön auf den Arm genommen.“

Als wir am nächsten Tag den Großvater trafen fragte er: „Na, habt Ihr Euren Schatz gefunden?“ und lachte. Ich sagte: „Nein.“ Er sagte: „So, ihr beiden, jetzt habt ihr was gelernt. Die Geschichte mit dem Regenbogen ist ein Märchen und ihr habt es geglaubt. In Eurem Leben werden noch viele Leute kommen und Euch etwas Ähnliches erzählen, etwa wie ihr Reichwerden könnt. Dann denkt immer an die Geschichte des Regenbogens. Bei solchen Geschichten wird immer nur der reich, der Euch die Geschichte erzählt und der freut sich dann, weil er wieder Dumme gefunden hat, die ihm alles geglaubt haben.“ Wahrlich, für mich war das eine Lektion. Immer, wenn in meinem Leben etwas verlockend war und zu einfach aussah, dachte ich an den Regenbogen. Ich suchte dann nach einem Haken und habe ihn auch immer gefunden. Er sagte zu uns: „Die Gier der Menschen wird einmal ihr Untergang sein. Ihr könntet hundert Millionen Mark haben, das Ewige Leben könnt Ihr Euch dafür nicht kaufen. Ihr seid nackt auf die Welt gekommen, und so müsst Ihr sie auch wieder verlassen. Merkt Euch, wenn ihr das Geld habt, um Euch ernähren zu können und eine Wohnung, eine Frau und vielleicht zwei oder drei Kinder und alle gesund seid, dann dankt unserem Herrgott und seid zufrieden.“

Als ich einmal beim Großvater im Stall war und ihm beim Melken zuschaute, sah er mich an und fragte: „Willst Du das auch einmal probieren?“ Ich sagte: „Klar.“ Er stand auf und sagte: „Setz Dich auf den Schemel und mache es so wie ich. Nimm den Eimer zwischen die Beine und dann packst Du die Kuh beim Euter, drückst leicht zusammen und ziehst etwas nach unten.“ Er führte mir kurze Zeit die Hand, da ging das ja noch ganz gut. Dann sagte er: „So, jetzt machst Du alleine weiter.“ Ich versuchte es, aber es klappte einfach nicht so richtig, zumal mir dieses Euter äußerst befremdet war. Er sagte: „Du darfst nicht so rumzappeln, da wird die Kuh ganz nervös.“ Das bekam ich auch gleich zu spüren. Die Kuh schlug mir ihren Schwanz um die Ohren und beim dritten Mal gab ich auf und sagte: „Großvater, mach Du weiter, bei mir klappt das nicht.“ Er übernahm wieder, bei ihm klappte das mühelos.

Die Kühe hatten alle Namen. Er erzählte mir: „Die Herta gibt 14 Liter Milch und die Paula 12 Liter.“ usw. Ich fragte ihn: „Und was ist mit den hinteren Vieren, die haben noch keine so großen Euter.“ Er sagte: „Die sind jung und haben noch keine Kälber. Mann nennt sie Rinder. Haben sie Kälber sind sie Kühe und geben Milch. Das ist wie bei den Menschen. Wenn eine Frau noch kein Kind geboren hat, befindet sich auch keine Milch in ihrem Busen und sie kann auch nicht stillen.“ Ich sagte: „Ich verstehe.“ Er fragte: „Was hast Du verstanden?“ Ich sagte: „Großvater, das ist doch ganz einfach. Eine Frau, die noch kein Kind geboren hat, ist ein Rind… und wenn sie ein Kind geboren hat, ist sie eine Kuh, weil sie jetzt ja Milch geben kann.“ Der Großvater hustete und schnaubte und brummelte vor sich hin und sagte: „Erzähl Deine Weisheiten ja nicht, wenn Frauen dabei sind. Sonst bekommst Du Ärger.“

Ich war so stolz auf meine Erkenntnis und sagte: „Ich habe, wo ich im Krankenhaus gelegen bin, gehört wie Dr. Baranow zur Schwester Dorle sagte: Sie sind eine dumme Kuh.“ Der Großvater sagte: „Jetzt reicht es. Du bringst Dich noch mal in Teufelsküche.“ Aber ich war ja gerade in meinem Element und da war ich als kleiner Junge kaum zu bremsen: „ Ich kann Dir auch erzählen, wie die kleinen Säuglinge gemacht werden.“ Er stutzte kurz und fragte erstaunt: „Was Du? Wer hat Dir das erzählt?“ Ich sagte: „Der Dr. Baranow, wie ich im Krankenhaus war.“ Er sagte: „Gut, dann erzähl mal.“ Ich legte los und sagte: „Weißt Du, die Männer, die haben so kleine winzige Dinger, die geben sie der Frau, die hat ein Ei im Bauch, da tut sie die Dinger dazu und dann geht es los. Das Ei wird größer, teilt sich in zwei und von nun an nennt man sie Zellen. Dann geht es weiter: vier, acht, sechzehn, wie bei dem Schachbrett mit den Weizenkörnern. Das gibt dann Millionen und Milliarden Zellen und nach neun Monaten ist das Kind fertig und kommt dann rausgekrabbelt.“ Der Großvater sagte: „Aha, so, so.“ Ich sagte: „Manche von den Kleinen, die wollen nicht so richtig rausgehen. Da reden der Doktor und die Hebamme denen gut zu und sagen, dass es jetzt Zeit ist, auf die Welt zu kommen. Wenn sie dann immer noch nicht wollen, kommt der Doktor mit einer Spritze, dann klappt es meistens. Und ein paar, die gar nicht wollen, da schneidet der Doktor der Frau den Bauch auf und holt den Wichtel mit Gewalt raus.“ Der Großvater bückte sich und lachte und sagte: „Bu, Bu, Du hast Dinge im Kopf, da wird einem ja ganz anders. Da kriegt man ja Angst, wenn man eine Frau ist.“

Ich sagte: „Großvater, ich hätte noch eine Frage. Das mit den Säuglingen und wie sie entstehen, das hab ich kapiert. Aber was ich nicht verstehe ist, wie die Männer die kleinen Dinger den Frauen geben und wie die Frauen diese Dinger mit dem Ei zusammenbringen. Ich hätte das gerne gewusst und würde das gerne mal sehen.“ Der Großvater lachte, schnaubte und hustete, alles in einem und sagte: „Das kann ich mir vorstellen. Das würde Dir noch fehlen. Hat der Doktor, wie heißt er wieder? - ich sagte: „Baranow“ - nicht erklärt?“ Ich sagte: „Nein, der sagte: Dieses Geheimnis wird Dir die Natur selbst offenbaren, wenn Du im richtigen Alter bist und ein junger Mann.“ Der Großvater meinte: „Ein kluger Mann, dieser Doktor. Und jetzt willst Du von mir eine Erklärung? Ich kann Dir auch keine andere geben wie Dein Doktor.“ Er murmelte dann etwas von Schöpfungsakt. Ich hakte sofort wieder ein: „Was ist ein Schöpfungsakt?“ Er erwiderte: „Wenn etwas Neues entsteht, für das man große Verantwortung tragen muss, zum Beispiel ein Kind. Da tragen Vater und Mutter eine sehr große Verantwortung. Sie müssen es auf den späteren Lebensweg vorbereiten, dass es dann so einen Plagegeist gibt, so wie Du.“ Er schmunzelte und fuhr fort: „Du bist nur ein kleiner, es war Spaß, Du kleiner Plagegeist. Es ist halt so: Man bekommt im Leben nicht immer auf alles eine Antwort. Da muss man sich manchmal in Geduld üben.“

Was ich noch gut in Erinnerung habe: Als ich 1952 konfirmiert wurde, habe ich vom Großvater und seiner Familie ein schönes Gesangbuch, ganz in Leder mit Goldprägung, und wo auch das Datum meiner Konfirmation eingeprägt war, von ihm erhalten. Dieses Gesangbuch habe ich immer in Ehren gehalten, bis es leider bei unserem Wohnungsbrand 2003 auch mit zerstört wurde.

Hier möchte ich meine Gespräche mit dem Großvater beenden, obwohl ich noch einmal so viele Seiten füllen könnte. Aber ich glaube, es reicht. Er war für mich einer der Menschen, die meine Kindheit stark geprägt und beeinflusst haben. Hierfür bin ich ihm noch heute dankbar und ich werde ihn nie vergessen. Er war wirklich ein sehr guter, wertvoller und christlicher Mensch.

Willi Eck

P.S.: Das Geheimnis, um das es zum Schluss ging, habe ich dann mit zwölf Jahren selbst gelöst. Halt, nicht so, wie Sie vielleicht denken! Sondern es war so: Ich war ein guter Leser im Amerika Haus (Bücherbus) und hatte dort das Privileg, mir mehrere Bücher ausleihen zu können ohne besonders kontrolliert zu werden. Ich suchte die Bücher, die mich interessierten immer selbst und sagte dann zum Beispiel: „Vier Stück.“ und das war es. Ich hatte zwei Bücher gefunden. Das eine hieß ‚Die gesunde Ehe’ und das andere ‚Die vollkommene Ehe’. Das erste Buch enthielt anschauliche Strichzeichnungen, sodass ich schließlich alles verstand. Beide Bücher hatte ich natürlich in der Scheune versteckt, zusammen mit meinem Lexikon, das ich immer mit mir herumschleppte. In der Scheune saß ich dann oben unterm Dachfirst, wo ich in aller Ruhe lesen konnte. Es störte mich niemand und fragte: „Was liest Du denn da?“ Meine Eltern hätten mir vielleicht etwas erzählt, oh, oh. Aber das kam zum Glück nie heraus. Bei der Rückgabe der Bücher hatte es eine der Amerikanerinnen gemerkt. Die wollte schon schimpfen und mir die Bücherkarte entziehen, aber die andere stand auf meiner Seite und sagte: „Mein Gott, jetzt hab Dich nicht so. Jetzt hat das halt mal ein 12jähriger gelesen. Da geht doch die Welt nicht unter.“ Wau, ich hatte Glück gehabt und es ist noch einmal gut gegangen.

 Meine Erkenntnis musste ich natürlich meinem Freund Gerle mitteilen. Der sagte erstmal: „Oh Mann, was für ein Gewurschtel.“ Ich merkte, er hatte es nicht richtig verstanden. Ihm fehlten ja auch die anschaulichen Strichzeichnungen. Ich sagte: „Du kannst Dir das nicht vorstellen.“ Er antwortete: „Nein.“ Da machte ich ihm den Vorschlag, dass wir am Montag, wo der Großvater eines seiner Rinder zum Decken bringen wollte, ihm nachschleichen und von der Mauer, die den Farrenstall umzäunte, zusehen. Gesagt getan. Hinter einem Fliederbusch konnte man uns nicht sehen, als das Ereignis begann. Das Rind lief immer im Kreis herum und der Bulle hinterher. Der Gerle fragte schon: „Ist das alles?“ Ich sagte: „Sei ruhig, da wird schon noch was kommen.“ Als es endlich begann, sind wir beide erschrocken über diese Urgewalt. Ich hörte noch den Gerle sagen: „Was für ein Gewurschtel und was für eine Sauerei. Ich heirate mal nicht. Wenn ich mir das so anschaue und vorstelle, ich hätte eine Frau und die krabbelt auf allen Vieren durch die Küche, ins Schlafzimmer und zurück ins Wohnzimmer und ich auf allen Vieren hinterher, dann noch so zu brummen wie der Bulle, das kann ich nicht und will das auch nicht. Ich bleibe ledig.“ Ich versuchte ihm noch zu erklären, dass es bei den Menschen anders ist, aber er glaubte es nicht und sagte: „Was ich gesehen habe, hat mir gereicht.“

Als wir beide junge Männer waren, so bei 22 und uns wieder trafen, fragte ich: „Bist Du schon mal durch die Zimmer gekrabbelt?“ und wir lachten dann beide. Mein Freund meinte noch: „Wäre doch mal eine interessante Variante. Bloß mit dem lauten Gebrumme, bekäme ich wohl Schwierigkeiten mit den Nachbarn.“

Willi Eck