„Mer kumme in die Groß-Schul!“

Man schrieb das Jahr 1944 als unser Jahrgang eingeschult wurde. Zu dieser Zeit war das alles nicht so einfach, denn es herrschte noch Krieg. Wir wurden damals im alten Kindergarten in der Luisenstraße angemeldet, wo wir auch unsere ersten Schultage verbrachten.

Am ersten Schultag erklärte uns unser damaliger Lehrer, Herr Englert, was wir alles brauchten. Zum Beispiel eine Schiefertafel, verschiede Griffel, einen Griffelkasten, einen Schwamm, ein Tuch zum Trocknen, ein Lineal und ein Lesebuch. Das Lesebuch gab es von der Schule und war gebraucht. Es wurde von der zweiten Klasse an uns Erstklässler weitergereicht. Wenn man Glück hatte, war es noch gut erhalten, aber manchmal war es auch schon ganz schön zerflettert. Mit den Schiefertafeln war das so eine Sache. Erstens waren sie schnell zerkratzt, sehr zerbrechlich und die Linien verblassten zusehends. Unser Lehrer zog dann die Linien mit einem Nagel nach. Zweitens, man konnte sich noch so große Mühe geben, wenn man auf der Tafel einmal gewischt hatte, sah das Ganze schon recht verschmiert aus. Wir schrieben mit Schiefergriffeln und danach wurden Aluminium-Griffel modern, was aber der Tafel nicht besonders gut tat. Denn nach etwa zwei Monaten hatte sie tiefe Schreibrillen, so dass sie nicht mehr zu gebrauchen war. Schulhefte waren zu dieser Zeit kaum oder sehr schwer zu bekommen, und wenn überhaupt, von absolut minderer Qualität und nicht holzfrei. Wenn man mit dem Federhalter darin schrieb, sah die Schrift absolut schwammig und zerflossen aus.

Herr Englert erklärte uns dann die Sitzordnung: die Mädchen rechts und die Jungs auf der linken Seite. Dies blieb bis zum Schulende so.

Bei der Einschulung gab es auch noch keine Schultüten. Wozu auch, man hätte nichts gehabt, um sie zu füllen. Zur damaligen Zeit konnte man keinerlei Naschwerk kaufen. Es gab in dieser Richtung überhaupt nichts. Man war schon privilegiert, wenn man ein ordentliches Pausenbrot hatte.

Wir waren im ersten Schuljahr alle gespannt und hoch motiviert. Wir waren froh, endlich zu den Großen zu gehören und keine Kinderschüler (heute Kindergarten) mehr zu sein. Überall, wo wir hinkamen, erzählten wir, dass wir jetzt in die „Groß-Schul gehe“. Unsere Schulzeiten waren montags bis freitags von 8 bis 13 Uhr und samstags von 8 bis 11 Uhr. Manchmal hatten wir auch nachmittags Schule.

In dieser Zeit kam es oft vor, dass die Sirenen heulten. Es war Fliegeralarm. Dann hieß es, alles liegen lassen und schnell nach Hause laufen. Das waren für uns ein Riesenstress und eine Aufregung. Wir hatten alle sehr große Angst und waren froh, wenn wir zu Hause angelangt waren und uns bei unseren Eltern im Keller sicher glaubten. Manchmal, wenn die Räume im alten Kindergarten belegt waren, hatten wir auch im Hotel Krone im seitlichen Anbau, „der Glaskasten“ genannt, Unterricht.

Inzwischen hatten wir gelernt, dass das Leben eines Groß-Schülers kein Zuckerschlecken war. Unser Lehrer, Herr Englert, war ein strenger, aber auch gerechter Lehrer. Er hatte manchmal auch eine lockere Hand und einen zünftigen Haselnuss-Stock, wovon er ab und zu Gebrauch machen musste. Rückblickend muss ich sagen, es war auch nötig, denn wir waren schon eine wilde Bande von Kriegskindern.

Wir waren 32 Kinder, Mädchen und Jungs beider Konfessionen, was aber in unserer Klasse bis heute überhaupt keine Rolle spielte. Im ersten Jahr gab es nicht viel zu berichten, weil wir im Ganzen nur 24 Stunden Unterricht hatten. Es gab ein paar kleine Begebenheiten. Einige unserer Mitschüler wurden für kurze Zeit als „Reugeplackte“ bezeichnet, weil sie aus Mannheim oder Umgebung, teils aus dem Ostpreußischen Raum kamen und etwas anders sprachen. Aber das hat sich sehr schnell gelegt. Wir saßen letztendlich ja alle im gleichen Boot. Wir Kinder waren regelrecht trainiert, bei Fliegeralarm irgendwo Schutz zu suchen: unter Tischen, Bänken, im Freien im Gebüsch oder Gras – das war uns schon in Fleisch und Blut übergegangen. Es gab Tage, da konnten wir überhaupt nicht in die Schule gehen, da andauernd Fliegeralarm war. Wir verbrachten dann die meiste Zeit, Tag oder Nacht, im Keller mit ganz kurzen Unterbrechungen, wo man etwas frische Luft schnappen konnte. Es war eine Zeit des Hungers und der Angst. Obwohl es bei uns auf dem Land nicht ganz so schlimm war wie bei den Kindern in der Stadt. Ob Tag oder Nacht, beim ersten Ton der Luftschutzsirenen standen wir senkrecht. Und das ist bis zum heutigen Tag so geblieben. Dieses Sirenengeräusch hat sich tief ins Unterbewusstsein eingegraben und signalisiert sofort: Achtung – Gefahr! Mir ist es vor Jahren passiert, dass im Ort eine Feuerwehrprobe war, was ich nicht mitbekommen habe. Als nun morgens die Sirene heulte, stand ich blitzschnell vor meinem Bett und sagte zu meiner Frau: „Schnell, hast Du nicht die Sirene gehört?“ Meine Frau sagte dann: „Es ist nur eine Feuerwehrprobe.“ Da erst realisierte ich, dass dieses Trauma aus der Kriegszeit noch immer latent vorhanden war.

Die Nachkriegszeit

Als der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende ging (Kapitulation), waren wir alle froh, denn nun konnten wir ohne Angst zu Schule gehen. Wir waren jetzt in der zweiten Klasse und es war noch immer eine schlimme Zeit. Die Lebensmittel und sonstige Bedarfsartikel wie Kleidung, Elektroartikel, Medikamente usw., waren noch immer rationiert. Man konnte sie vielleicht, wenn man Glück hatte, im Tauschhandel oder auf dem Schwarzmarkt bekommen. Die meisten von uns hatten keinen richtigen Schulranzen, und wenn, dann war er gebraucht und alt. Viele hatten nur eine Stofftasche, um ihre Habseligkeiten unterzubringen.

Ich erinnere mich noch: Nach dem Krieg gab es die so genannte Hooverspeisung (Schulspeisung). Wir wurden von einem Arzt gewogen und alle, die Untergewicht hatten, durften daran teilnehmen. Wir Kinder mussten ein Essgeschirr (Essekändel) mitbringen und einen Löffel. Dann gab es täglich so um 11 Uhr eine Nudelsuppe mit Fleischeinlage oder Reisbrei mit Kakao, der, wenn die Frauen etwas zu viel Kakao rein brachten, weil sie es ja gut meinten, bittersüß schmeckte. Von uns wurde er Negerbrabbel genannt. Freitags oder samstags gab es manchmal Kakao mit Ofennudeln (Dampfnudeln). Es musste immer aufgegessen werden, weil es ja „so gsund“ war. Manchmal gab es auch eine Apfelsine oder einen Schokoladenriegel, aber sehr selten. Wir saßen dann in der Kochschule, im Souterrain des Schulhauses, und löffelten unsere Suppe oder Brei. Das verlangte manchmal artistisches Geschick, da das Essenkännchen aus Metall war und durch den Inhalt sehr heiß wurde.

Nachdem die Schulspeisung irgendwann eingestellt wurde, konnte die Küche im Schulhaus wieder für den Kochunterricht verwendet werden. Die Mädchen der höheren Klassen lernten hier die Grundzüge der Hauswirtschaft, das Kochen und Backen. Sie suchten dann immer Opfer, die das Gekochte oder Gebackene versuchten. Aber es war kein Opfer, denn das, was sie produziert hatten, schmeckte meistens sehr gut.

Das Fach Hauswirtschaft, Kochen und Backen ist heute ein Wahlfach und wird in der Martin-Stöhr Schule in Leutershausen als Wahlfach angeboten. Ich kann nur allen Schülerinnen und Schülern raten, daran teilzunehmen. Ich habe das Kochen und Backen von meiner Großmutter gelernt und es bis heute nie bereut, im Gegenteil, es macht Spaß. Meine Frau und ich wechseln uns öfters ab. An Festtagen koche ich besonders gern. Da kann man seiner Kreativität freien Lauf lassen und für meine Frau ist es in diesen meist arbeitsreichen Tagen eine Entlastung. Auch die Gäste, die wir später hatten, waren voll des Lobes. Also Mädel und Jungs, ran an die Sache, es ist nur ein Vorteil für Euch.

In der zweiten Klasse gingen wir manchmal auch während der Schulzeit Kartoffelkäfer lesen. Viele werden sich jetzt fragen, was ist denn das? Es war so: Zu dieser Zeit hatte man von Pestiziden oder Herbiziden kaum etwas gehört. Es gab sie einfach noch nicht im Bewusstsein der Leute. Da musste man den Schädlingen manuell Herr werden. Es lief folgendermaßen ab: Jeder hatte eine Flasche halbvoll mit Wasser und las nun die Kartoffelkäfer vom Strauch und stopfte sie in die Flasche, wo sie letztendlich ertranken. Vom Anfang bis zum Ende einer Reihe des Feldes hatte jeder eine Flasche voll mit Kartoffelkäfer. So versuchte man das Problem zu lösen. Und ich denke, es war auch ganz wirkungsvoll. Die Plage nahm danach rapide ab.

Unser Lehrer, Herr Englert, versuchte, mit uns den ausgefallenen Lehrstoff nachzuholen, was ihm auch recht gut gelungen ist. Wir mussten dadurch sehr viel lernen und bekamen viele Hausaufgaben auf. Er war streng, aber auch liebevoll. Er unterrichtete uns bis zum Ende der dritten Klasse und brachte uns sehr viel bei. Ich werde ihn nie vergessen. Als er dann aus Altersgründen in den Ruhestand ging, waren wir alle sehr traurig. Und ich kann mich noch gut erinnern: Eine nachfolgende Lehrerin, ein Fräulein Fournie, übte mit uns das Lied ein: „Ach wie ist es möglich dann…“, das wir ihm dann vor seinem Haus gesungen haben. Er hatte Tränen in den Augen und auch von unserer Klasse haben viele geweint.

Dies waren die drei ersten Schuljahre. Ich würde sagen, ein gravierender Abschnitt in unserem Kinderleben. Ich glaube, wir waren als Kinder in der Kriegszeit schneller gereift. Für uns war Not, Elend, Kummer, Schmerz, Angst und Hunger allgegenwärtig. Bei einigen war der Vater im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft, oder sie verloren Verwandte durch Bomben oder hatten ihre Heimat und ihr Zuhause verloren. Ich denke, diese schlimme Zeit hat uns alle geprägt und uns ein Gefühl für Zusammengehörigkeit gegeben. Bis heute, im Jahr 2006, ist dies noch zu spüren. Ich denke, dass ich im Namen aller Schulkameradinnen und Schulkameraden spreche, dass es weiter so bleiben wird.

Als wir nun in die vierte Klasse kamen, bekamen wir einen neuen Lehrer, Herrn Haag, der wegen einer schlimmen Kriegsverletzung früher nach Hause gekommen war. Er war ein knallharter Lehrer. Er paukte mit uns den Lehrstoff durch und wer nicht gleich mitkam, hatte eben Pech gehabt. Wenn das Wetter umschlug, war er besonders unleidlich, vermutlich auf Grund seiner Kriegsverletzung. Aus heutiger Sicht habe ich Verständnis für ihn, damals konnte ich ihn nicht verstehen. Er schrieb auch eine gute Handschrift. Einige werden sich sicher noch daran erinnern können. Auch verpasste er vielen Schülern einen Spitznamen, der auch in den weiteren Schuljahren meist erhalten blieb. Ich nenne hier einige der Spitznamen, die damals in der Klasse kursierten: Oma, Mary, Bado, Geelerüb (das war ich), Dickrüb, Quetscheliesel, Berbs, Hering, Weißkitz, Negerschnut, Lauches, Brummern, Stinkern oder Brillenschlange.

Als meine Tochter später in die Schule ging, bekam sie auch Lehrer Haag zum Klassenlehrer. Bei mir läuteten alle Alarmglocken. Aber siehe da, meine Tochter und ihre Schulkameradinnen schwärmten für ihn und vergötterten ihn fast. Wann immer sie konnten, waren sie bei ihm im Garten zu finden. Mich freute das besonders, da ich sah, dass nicht nur Kinder, sondern auch Lehrer etwas dazulernen.

Er hatte eine große Leidenschaft, das war die Jagd. Er war ein leidenschaftlicher Jäger. Ich hatte damals schnell erkannt, dass das ein Schwachpunkt bei ihm war. Hier konnte man bei ihm Pluspunkte machen. Da ich schon als kleiner Junge sehr naturverbunden war und gerne kleine Geschichten schrieb, ließ ich meiner Fantasie freien Lauf und schrieb kleine Jagd- und Tiergeschichten. Ich recherchierte in Büchern und alten Bildern und legte mir so ein kleines Fachwissen über die Jagd zu, so dass die Geschichten eine größere Authentizität hatten. Ich weiß noch, meine beste Geschichte war „Die Saujagd im Mittelalter“, wo ich großes Lob und eine sehr gute Note von ihm bekam. Er wunderte sich des Öfteren über mein Wissen vom Waidwerk, wie er es nannte. Was er nicht wusste war, dass ich vor meiner Einschulung knapp zwei Jahre mit kurzen Unterbrechungen im Städtischen Krankenhaus in Mannheim verbringen musste, wo mir zwei kriegsverletzte Studienräte das Lesen und Schreiben beibrachten. Das war mein Glück. Aber die lange Zeit in der Klinik war mein Pech. Ich wäre doch lieber mit den anderen Kindern draußen herumgetollt. Aber so ist das Leben. Man muss versuchen, dem Schlechten noch etwas Gutes abzugewinnen. Ich hatte bis dahin Bücher aller Art gelesen, auch ein Buch, ich glaube es hieß: „Das deutsche Waidwerk“ oder so ähnlich. Aber das war mein Geheimnis. Davon wusste nur unser vorhergehender Klassenlehrer, Herr Englert, sonst niemand.

Wir hatten circa eineinhalb Jahre Unterricht bei Herrn Haag. Das war eine harte Zeit und ich glaube, alle waren erleichtert, als ein neuer Lehrer, Herr Förster an unsere Schule kam. Für kurze Zeit war er unser Klassenlehrer. Soweit ich mich an ihn erinnere, war er ganz in Ordnung. Bei ihm machte das Lernen wieder Spaß. Man hatte nicht so einen großen Druck und keine Angst mehr. Er blieb leider nur kurze Zeit und wechselte dann an die Schule in Leutershausen.

Sport hatten wir einige Zeit bei einem neuen Lehrer, Herrn Franz Kutscher. Der war prima. Mit ihm konnte man über alles reden. Aber auch er ging später nach Leutershausen. Schade!

Nun kamen wir in die fünfte Klasse und unser neuer Klassenlehrer war Herr Karl Schweitzer, der uns bis zum Schulende unterrichtete. Er war am Anfang durch seine Distanziertheit etwas gewöhnungsbedürftig. Einer seiner Sprüche war: „So, meine Damen und Herren, …“. Aber nachdem wir uns aneinander gewöhnt hatten, war er super. Er hatte seine besondere Art, einem den Lehrstoff nahe zu bringen. Bei ihm ging das irgendwie spielerisch. So machte einem das Lernen richtig Spaß. Er hatte die Begabung, alles spannend rüberzubringen. Rückblickend muss ich heute sagen: Er kannte jeden einzelnen, wo er seine Stärken und Schwächen hatte. Er verstand es, uns, Mädchen oder Jungen, das Gefühl zu geben, dass wir wichtig sind und er uns ernst nahm, so dass wir unsere eigene Persönlichkeit entwickeln konnten. Bei ihm hatten wir Mathe, Deutsch, Geschichte, Geographie, Staatsbürgerkunde und Zeichnen.

Die Fächer Biologie, Chemie und Physik, damals Naturlehre genannt, hatten wir bei Lehrer Eduard Siefert. Er hatte die Eigenheit, immer die Tafel voll zu schreiben, zum Beispiel die Chemischen Elemente. Dann sagte er: „Alle mitschreiben!“, machte eine Pause und sagte: „Wenn alle das abgeschrieben haben, machen wir weiter.“ Er setzte sich an sein Pult, schaute ein paar Mal über die Klasse und machte dann ein Nickerchen. Nach ein paar Minuten sank sein Kopf auf die Brust und er war eingeschlafen. Wenn wir leise waren, ging die Stunde vorbei, ohne dass wir viel getan hatten. Wenn dann die Pausenglocke läutete, wachte er auf und sagte. „Alle fertig? Das nächste Mal machen wir weiter.“ Wir nannten ihn liebevoll Edu, nach seinem Vornamen Eduard.

Auch spielten wir ihm öfters kleine Streiche. Unser Wilhelm kam auf die glorreiche Idee, dass alle von Zuhause eine Brille mitbringen sollten. Gesagt, getan! In der nächsten Stunde bei Lehrer Siefert hatten wir alle Brillen auf, bis auf unseren Schulkameraden Heinz, der früh verstarb, Gott hab ihn selig. Der hatte sich eine Brille aus Draht gebastelt und nicht einmal besonders gut. Herr Siefert lief nun durch die Reihen, schaute uns an und fragte: „Seid ihr alle kurzsichtig?“ Jeder nickte. Bei Heinz blieb er stehen, fixierte ihn und sein Drahtgestell und fragte: „Brauchst Du auch eine Brille?“ Heinz stand auf und sagte: „Ja!“ Da schlug der Blitz ein mit einer Ohrfeige, die nicht ohne war. Das Drahtgestell machte sich selbstständig, flog durch den Raum und Heinz auf sein Hinterteil auf die Bank. Heinz hielt sich die Wange, Lehrer Siefert tobte und schrie: „Ich werde Dir helfen, sich über andere lustig zu machen. Sei froh, dass Du keine Brille brauchst. Hast Du gedacht, Du könntest mich veräppeln? Da musst Du früher aufstehen, Bürschchen!“ Wir hatten schon Krämpfe in den Wangenmuskeln, wir durften ja nicht lachen, sonst hätte er es gemerkt.

Ein anderes Mal brachte jemand zwei Maikäfer mit in die Schule. Nachdem Lehrer Siefert wieder eingenickt war, setzte ihm jemand die zwei Tierchen ans Hosenbein. Wir beobachteten gespannt, wie sie hoch krabbelten. Der eine startete schon in Hüfthöhe, aber der andere setzte seinen Weg fort. Als er so in Höhe des Halses ankam, schreckte Lehrer Siefert auf, packte den Maikäfer und sagte: „Net emol vor de Menschen mache die Viecher halt. Diese verflixten Schädlinge.“ Gleich darauf hielt er uns einen Vortrag über die Schädlichkeit der Maikäfer und den volkswirtschaftlichen Schaden, den sie anrichten.

Herr Siefert war ein älterer Lehrer, der auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte. Und wenn er Mal ins Reden kam, waren die Themen sehr interessant. Zum Beispiel bei der Chemie (Schwarzpulver und Stinkbomben), da konnte ich immer experimentieren und unsere Nachbarn ärgern. Oder über die Elektrizität, da machte ich ein paar leidvolle Erfahrungen. Alles in allem, wir kamen gut mit ihm zurecht, und ich glaube, es wird ihn keiner vergessen.

Weiter ging es mit Musik. Singen hatten wir bei Fräulein Fournie, die sich später zur Rektorin an der hiesigen Schule aufschwang. Sie hatte die Angewohnheit, die Lieder, die wir singen sollten, an die Tafel zu schreiben und alle mussten sie dann abschreiben. Dabei sagte sie des Öfteren während sie mit dem Rücken zu uns stand: „Wenn ihr etwas anstellt, sehe ich alles in meiner Brille gespiegelt.“ Wir hatten natürlich schnell gemerkt, dass das nicht stimmte. Wir machten hinter ihrem Rücken Kapriolen und sie bemerkte es nicht. Außer, wenn sie sich plötzlich umdrehte und einen erwischte. Aber das war selten. Das Singen endete oft in einer Katastrophe. Wir sollten immer Canons singen. Aber das klappte sehr selten. Sie meinte dann, dass wir eben nicht singen könnten. Sie selbst war überzeugt, sie hätte eine hervorragende Sopranstimme. Wenn sie dann Mal anfing zu singen, hatte ich das Gefühl, im Umkreis von 500 Metern ergreifen jetzt bestimmt alle Hunde die Flucht, denn es tat einem richtig in den Ohren weh. In der Kirche war es besonders gravierend. Wenn sie da loslegte, waren die übrigen Frauen meistens so erschrocken, dass sie vergaßen zu singen. Sie hatte dann fast einen Solopart. Ich hörte einmal einen älteren Herrn sagen: „Das war wieder einmal Koloratur im Salto Mortale“. Aber ansonsten war sie eine ältere, distinguierte und intelligente Dame, die eigentlich recht umgänglich war. Ich glaube, sie sprach drei Fremdsprachen. Sie blieb lange Jahre Rektorin an der Volksschule von Großsachsen.

Aber nun wieder zurück zu unserem Klassenlehrer Herrn Schweitzer. Er sagte immer: „Merkt Euch alles! Was Ihr jetzt lernt, ist von Vorteil für das spätere Leben, denn Wissen ist Macht.“ Er gab sich sehr große Mühe, uns so viel wie möglich beizubringen und ich kann mich noch erinnern: Im Deutsch-Unterricht bereitete er mit uns ein Diktat vor mit Wörtern im Deutschen Sprachgebrauch, die aus dem Französischen stammen wie zum Beispiel: Canapé, Contenance, Chaiselongue, Couvert, Trottoir, Portemonnaie, Bouillon, Parapluie (Regenschirm) usw. Es war ein Fiasko. Auf zweieinhalb Seiten wurden von 22 bis 72 Fehler gemacht. Er flippte total aus und sagte: „Das ist ja noch schlimmer wie bei den Hottentotten. Die hätten es besser gemacht wie Ihr.“ Ich bitte aber den Leser zu bedenken, das war Ende der fünften Klasse. Wir mussten die Klassenarbeiten immer von unseren Eltern abzeichnen lassen. Als mein Vater das Heft sah ist er fast durchgedreht. Ich hatte nur 27 Fehler und war noch ganz gut. Er aber tobte und sagte: „Von unserer Familie hat noch niemand so ein schlechtes Diktat geschrieben.“ bis meine Mutter einschritt und die Situation rettete. Sie sagte zu ihm: „Mach Du es erst einmal besser.“ Sie legte ein Blatt und ein Bleistift hin und sagte: „Los geht’s“. Sie las ihm das Diktat vor und er schrieb mit. Nach einer halben Seite sagte sie zu ihm: „Du hast auf dieser halben Seite schon fünf Fehler. Überleg einmal, wenn Du zweieinhalb Seiten schreiben musst, was dann rauskommt.“ Mein Vater sagte nichts mehr und am nächsten Morgen lag mein Schulheft auf dem Tisch mit seiner Unterschrift und dem Nachsatz: „Sehr geehrter Herr Schweitzer, das war ja auch ganz schön schwer für die Kleinen.“

Lehrer Schweitzer war sehr fair. Am Ende eines Schulhalbjahres sagte er zum Beispiel: „Du stehst in Mathe nicht so gut da.“ Dann konnte man, wenn man sich mündlich von ihm prüfen ließ, seine Leistung um eine Note verbessern. Dieses Angebot wurde des Öfteren angenommen. Auch ich hatte einige Male davon profitiert, denn mein Vater hatte mir angedroht: „Wehe, Du bringst im Zeugnis eine Note schlechter wie 3, dann setzt es was und es gibt zwei Monate Hausarrest.“ Das war für mich immer ein Grund, mich besonders anzustrengen, speziell kurz bevor es Zeugnisse gab. Unser Lehrer sagte zu mir: „Wenn Du immer so arbeiten würdest wie jetzt, dann wärst Du sehr gut, aber es ist natürlich leichter faul zu sein.“

 
Er sagte zu uns: „Wenn Ihr einmal aus der Schule seid, und wir uns wieder treffen, werdet Ihr zu mir sagen, dass ich Euch hätte viel mehr fordern müssen.“ Damals dachte ich: „Das wird er nicht erleben.“ Aber er hatte Recht. Bei unserem ersten Klassentreffen in der „Rose“ in Großsachsen, wo er auch eingeladen war, sagte ich bei der Begrüßung zu ihm: „Herr Lehrer Schweitzer, Sie hatten damals Recht. Ich kann Sie heute nur bestätigen. Sie hätten uns damals ruhig mehr in den Hintern treten können. Jetzt weiß ich, wie wichtig eine gute Schulbildung ist. Es ist der Schlüssel für das spätere Leben.“ Heute behaupte ich, ein guter Lehrer, eine gute Schule und ein intaktes Elternhaus sind unabdingbar für unsere Kinder und unsere Gesellschaft. Wenn ich ihn heute beurteilen könnte, bekäme er von mir ein Summa cum laude.

Ich erinnere mich, dass er in Deutsch vom üblichen Lehrplan der Volksschule abwich und uns die lateinischen Worte der Grammatik wie Substantiv, Verb, Adjektiv, Singular, Plural, Nominativ, Genetiv, Dativ, Akkusativ usw. beibrachte. Ich weiß nicht, wie viele das heute noch wissen. Er brachte uns auch viele Worte aus dem Lateinischen, die in die Deutsche Sprache eingeflossen sind, und deren Ableitungen bei. In Staatsbürgerkunde erklärte er uns damals schon die Begriffe Legislative, Legislaturperiode, Exekutive, Judikative usw., Wörter, die im Lehrplan der Volksschule nicht vorkamen. In Mathe erklärte er uns die Grundzüge von Algebra usw. Das ließe sich noch weiterführen. Alles zusammen genommen hat Herr Schweitzer uns eine umfassende Allgemeinbildung beigebracht, die weit über die Norm des normalen Lehrplans hinausging. Dafür sei ihm heute noch Dank.

Er war ein großer Liebhaber der Klassischen Musik. Er konnte sehr gut Geige spielen und spielte uns öfters Stücke von Beethoven oder Mozart vor. Allein die Vorbereitungen hatte etwas Zenhaftes an sich, bis er seine Geige gestimmt, sein Tüchlein unterm Kinn hatte und die Augen schloss und anfing zu spielen. Wehe, es schwätzte jemand oder lachte. Dann wurde er stocksauer und sagte: „Du bist ein Banause und hast keinen Geschmack.“ Weil wir wussten, dass er Musik liebte, kamen unsere Mädchen auf die Idee, für ihn beim SDR – Stuttgart einen Musikwunsch zu bestellen und zwar den damals modernen Schlager „Die Fischerin vom Bodensee“. Als er dann vom SDR eine Postkarte bekam mit Sendetermin drehte er durch. „Wie könnt Ihr mir so etwas antun! So eine Schnulze!“ Im Radio sprach dann auch noch der Moderator: „Dieses Lied wurde von der siebten Klasse der Volksschule Großsachen für ihren Lehrer, Herrn Karl Schweitzer, gewünscht.“ Da war es ganz aus. Er redete drei Tage nur das Nötigste mit uns und sagte: „So eine Blamage. Was sollen denn jetzt die Leute denken. Sie meinen sicher, ich hätte Euch keinen Geschmack beigebracht.“ Für uns war das Lied damals populäre Musik. Zu dieser Zeit gab es viele ähnliche Schnulzen. Heute kann ich es ihm nachfühlen. Ich sagte zu meiner Frau: „Es wäre das gleiche, wie wenn ich Dir zum Geburtstag bei einem Radiosender das Lied „Schni, Schna, Schnappi“ mit vielen Grüßen von Deinem Ehemann wünschen würde.“ Sie schaute mich entsetzt an und sagte: „Wehe Dir, das würdest Du bereuen.“

Ein anderes Mal bekam ein Schulfreund mit einem Mitschüler Streit. Der zog ihm blitzschnell die Hose runter, so dass er mit dem Unterteil nackt in der Klasse stand. Statt sie gleich wieder hochzuziehen, beugte er sich über seinen Kontrahenten und schlug auf den ein. Die ganze Zeit streckte er dabei sein blankes Hinterteil in die Luft, so dass sich die ganze Klasse vor Lachen krümmte. Wegen des Lärms schaute unser Lehrer hoch, er war gerade beim Hefte korrigieren. Ihm blieb der Mund offen stehen, so überrascht war er über diesen Anblick. Als er sich wieder gefangen hatte, brüllte er los: „Seid Ihr denn vom Wahnsinn geplagt, Ihr beide?“ Da erst bemerkte der arme Kerl, dass er die ganze Zeit mit heruntergelassener Hose gekämpft hatte. Er bekam einen hochroten Kopf und es war ihm sehr peinlich, denn die Mädchen kicherten immer noch. Beide Streithammel bekamen eine Backpfeife und mussten eine Stunde vor der Tür verbringen, um über ihren Streit nachzudenken. Es ist immer irgendetwas passiert. Alles zu erzählen würde hier den Bericht sprengen.

Aber eine Sache möchte ich noch erwähnen. Ich hatte das Pech, dass ich von Anfang bis zum Ende der sechsten Klasse in die Klinik nach Mannheim musste. Quasi habe ich das ganze Schuljahr versäumt. Und nun sollte ich das Schuljahr wiederholen, also zurück gestuft werden, wogegen ich mich mit Händen und Füßen sträubte. Ich sagte zu meinen Eltern und zu Lehrer Schweitzer: „Wenn das passiert, springe ich von der Scheuer.“ Und ich hätte es damals getan, es war mir unheimlich ernst. Da sagte Lehrer Schweitzer zu mir, dass es die Möglichkeit gäbe, dass man eine Klasse überspringen kann, wenn das Schulamt einen prüft und man diese Prüfung besteht. Ich sagte: „Bitte, tun Sie das für mich.“ Er reichte alles ein und sagte nach einer Woche zu mir: „Es hat geklappt, in drei Wochen kommen die und bis dahin hast Du Zeit, Nachzulernen. Jetzt kannst Du zeigen, was in Dir steckt. Ich bin mir sicher, dass Du das packst. Es kommt nun alleine auf Dich an.“ Und ich muss gestehen: Ich habe später nie wieder so viel gelernt wie zu diesem Zeitpunkt. Jede freie Minute habe ich dazu genutzt. Ich habe mich in die Scheune zurückgezogen, um ungestört zu sein. Was habe ich mir alles an Wissen reingezogen, dass es ja klappt. Dann kam der Tag X. Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen und war furchtbar aufgeregt. Ich musste in ein Zimmer und es waren drei Herren anwesend und mein Klassenlehrer. Ich bekam als erstes sieben Fragebogen mit Kästchen, wo man die richtigen Antworten ankreuzen musste. Sie sagten: „Du hast genau 35 Minuten Zeit.“ Aber das war leicht, in 30 Minuten war ich fertig. Man schaute mich überrascht an. Ich dachte: „Oh je, was ist jetzt passiert.“ Dann kam ein Diktat, auch nicht besonders schwer, ich hatte nur einen Fehler. Dann zwei Blätter mit Matheaufgaben. Auch die hatte ich schnell gelöst. Dann hieß es: „So, jetzt gehst Du nach draußen und wartest.“ Ich saß auf der Treppe im Schulhaus und dachte: „Jetzt geht es bestimmt erst richtig los.“ Ich war ganz nervös. Da öffnete sich die Tür und Lehrer Schweitzer kam raus und sagte zu mir: „Das hast Du prima gemacht.“ Dann wurde ich wieder herein gerufen und man gratulierte mir für die hervorragende Leistung und sagte: „Es besteht überhaupt kein Grund, dass Du das Schuljahr wiederholst. Du darfst bei Deiner Klasse bleiben.“ Ich werde Herrn Schweitzer nie vergessen: Er hat mir damals sehr geholfen. Ich bin mir nicht sicher, ob ein anderer Lehrer das auch für mich getan hätte. Ich war ja so froh, es geschafft zu haben.

Die siebte und achte Klasse verliefen ohne nennenswerte Ereignisse. Herr Schweitzer bereitete uns auf unser Berufsleben vor. Wir lernten, was ein Scheck ist, ein Wechsel, Postüberweisungen, Zahlkarten, Banküberweisungen, Bewerbungen zu schreiben und Bewerbungsgespräche zu führen. Alles in allem: Er hat das Bestmögliche für uns getan und uns in der achten Klasse mit guten Ratschlägen und den besten Wünschen in den Ernst des Lebens entlassen.

Noch zu erwähnen ist der Religionsunterricht, der damals Pflicht war, bei den verschiedenen Pfarrern. Als erstes hatten wir Pfarrer Schäfer-Gund. Er war ein sehr harter Mann und langte des Öfteren kräftig zu. Wenn man im Kindergottesdienst fehlte ohne plausible Entschuldigung, setzte es etwas. Er ging aber bald in den Ruhestand. Danach hatten wir Pfarrvikar Hennritzki. Von dem gibt es nicht viel zu berichten, außer dass er immer mit dem Fahrrad in den Religionsunterricht kam.

Und nun, nach ihm kam Pfarrer Hermann Stöhrer. Er verstand es recht gut, mit uns umzugehen. Er konnte zwar auch barsch sein und die Hand rutschte ihm manchmal aus, aber das war selten und es gab dafür immer einen triftigen Grund. Was ich an ihm besonders bewunderte war, dass er immer seine Meinung sagte, teilweise auch in der Kirche von der Kanzel herab. Er verlor nie die Ruhe, egal was passierte. Ich erinnere mich noch an eine Begebenheit: Früher waren die Geschlechter in der Kirche getrennt. Die Herren saßen oben, die Damen unten und auf der Seitenempore wir, das Jungvolk. Da wurde es einem von uns einmal schlecht und er musste sich übergeben. Es gab für ihn keine andere Möglichkeit, als sich über die Brüstung zu beugen und den Dingen seinen Lauf zu lassen. Er konnte nicht anders. Pfarrer Stöhrer stand am Altar und sagte ganz gelassen: „Das kann schon einmal passieren, meine Damen. Es tut mir leid.“ Ein anderes Mal, es war der Silvestergottesdienst, an dem wir teilnehmen mussten – wir hatten natürlich unsere Knaller schon in der Hosentaschen, um nach dem Gottesdienst anständig Rabatz zu machen – da passierte es, dass einer auch ein Feuerzeug mit dabei hatte, so einen richtigen Benzinkocher, wie man sie damals hatte. Er spielte damit unter der Brüstung herum und machte es immer aus und an. Ein anderer holte einen Bombenschlag aus seiner Hosentasche und hielt ihn an das Feuerzeug, es war ja aus. So ging das hin und her. Vielleicht wollten sie üben, dass es nach der Kirche besser klappt. Aber daraus wurde nichts. Denn der mit dem Feuerzeug knipste es plötzlich an, die Zündschnur fing Feuer und es zischte. Der andere wusste nun natürlich nicht, was er machen sollte und warf den Bombenschlag halt ins Kirchenschiff. Es tat einen furchtbaren Schlag. Die Frauen erschraken und schrien. Pfarrer Stöhrer blieb gelassen und sagte: „Es ist zwar noch nicht 12 Uhr, aber das Neue Jahr kann beginnen“, schaute hoch zur Empore „mit Euch beiden rede ich am Montag.“ Das hat er dann auch kräftig getan.

Abschließend möchte ich bemerken, dass sich unsere Klasse zwischen drei und fünf Mal im Jahr trifft, zum gemütlichen Beisammensein, Ausflügen oder ähnlichem. Auch die jeweiligen Ehepartner sind bestens integriert. Bei größeren Treffen ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, die Gräber unserer Lehrer, Schulkameradinnen und Schulkameraden zu besuchen und ihrer zu gedenken. Solange wir leben, werden auch sie in unseren Gedanken weiterleben. Unser Schulfreund Wilhelm hat sich die ganzen Jahre mehr als verdient gemacht, alle zusammenzuhalten, was ihm auch hervorragend gelungen ist. Ich denke, ich spreche für alle, hier gilt ihm unser aller Dank.

Nun bin ich zum Ende gekommen. Dieser Bericht ist natürlich subjektiv. Ich hoffe, ich habe niemanden gekränkt. Wenn doch, tut es mir leid, das lag nicht in meiner Absicht.

Willi Eck