Großsachsen 1911:
Eine Kontroverse um das „Leichensingen“

Ein Bericht von Rainer Gutjahr

Im Weinheimer Anzeiger vom 1. Februar 1911 beschäftigte sich das Eingesandt eines Ungenannten aus Großsachsen mit dem „Leichensingen“ der Schüler.  

„Wie in vielen Orten des Oberlandes der Leichengesang der Schüler ohne große Mißhelligkeiten  abgeschafft wurde, so regen sich auch hier Stimmen, diesen alten, lästigen Brauch fallen zu lassen. Viele Väter haben sich beklagt (und das mit Recht), daß sich die Kinder auf dem freien Friedhof während der Winterszeit leicht Erkältungen zuziehen können, die Eltern und Kindern unangenehm sind und in der Schule lebhafte Störungen des Schulbetriebs verursachen können. Weiter störend ist der Umstand, daß viele Beerdingungen in die Schulzeit verlegt werden müssen, die dem pflichtgetreuen Lehrer schon manche wertvolle Stunde geraubt haben. Man könnte in dieser Angelegenheit leicht Wandel schaffen, ohne radikal zu verfahren. Man könnte den Leichengesang in einer anderen Form pflegen. Ist doch fast in jeder Gemeinde ein Kirchenchor, der sich bei solchen Anlässen gerne zur Verfügung stellt, wenn man sich als Mitglied anwerben lässt und einen kleinen Beitrag leistet. Wollen wir aber den Leichengesang der Schüler fallen lassen! Denn der Lehrer, der schon manches Jahr im Kampfe gestanden ist, hat genug mit seiner Schule zu tun; es reizt ihn nicht das kleine Entgelt, das dafür ausgegeben wird.“

Gleich am nächsten Tag waren zwei Entgegnungen zu lesen. In der einen heißt es, dass das, was im Oberland geschehe, für Großsachsen nicht gelte; auch sei von einer „Bewegung“ der Eltern gegen das Leichensingen nichts zu spüren. Das Gegenteil sei richtig. Als nämlich vor nicht langer Zeit der Kirchengemeinderat das Leichensingen habe abschaffen wollen, weil der betreffende Lehrer neben seiner vertragsmäßigen Vergütung ein besonderes Entgelt für das Leichensingen verlangt habe, hätte die Kirchengemeindeversammlung diesen Beschluss „mit erdrückender Mehrheit“ wieder umgestoßen. Weiter werde auch seit Jahren darauf geachtet, dass die Beerdigungsfeier nicht in die Unterrichtszeit gelegt werde. Damit werde dem „pflichtgetreuen Lehrer“ keine seiner „wertvollen“ Stunden genommen. Auch sei der Kirchenchor nicht dazu da, als Nothelfer im Leichensingen einzuspringen. In der zweiten Entgegnung heißt es, dass der Einsender wohl mit den örtlichen Verhältnissen nicht recht vertraut sei. „Warum soll gerade unser Ort den Anfang machen, einen uralten Brauch aufzuheben.“  Eine Reform nach Oberländer Art möge vielleicht in einigen Städten gelingen, in den meisten aber nicht. Unbegreiflich sei, dass der Kirchenchor die Stelle der Schüler übernehmen solle. „In unserer Gegend besteht  ein solcher Chor nur aus erwachsenen Frauen und Männern“, die alle tagsüber einem Berufe nachgingen. Dagegen hätten die Kinder nichts zu versäumen. Der „pflichtgetreue Lehrer“ hätte in den meisten Fällen den Kirchenchor zu leiten oder müsse des Orgelspiels wegen in der Kirche sein, „so auch bei uns“. Was aber trieben die Kinder in dieser Zeit? „Die schauen durchs Fenster ihrem Lehrer und den Mitgliedern des Kirchenchores nach, wie diese zur Beerdigung gehen, oder aber sie langweilen sich.“ Abschließend heißt es: „Wir Unterländer wollen zum Wohle aller das von unseren Vätern ererbte noch recht lange behalten. Also nicht reformieren!“

Die weitere Entwicklung in diesem Streit ist bislang unbekannt; vielleicht gibt es aber in Großsachsen noch Erinnerungen, die darüber berichten könnten.

Rainer Gutjahr