Das alte Rathaus an der Landstraße

Vor circa 40 Jahren zog ich mit meiner Familie ins alte Rathaus in der Landstraße. Wir bekamen eine Wohnung im ersten Stock, drei Zimmer, Küche, WC und eine große Terrasse. Wir wohnten mit einer alten Dame im gleichen Abschluss, von der ich gehört hatte, dass sie in diesem Haus aufgewachsen war.

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„Das alte Rathaus brennt“

„Wir sind wieder umgezogen“



Streifzug durch das Rathaus
 

Nach einiger Zeit des Kennenlernens pflegten wir eine sehr gute Nachbarschaft. Wir hielten so manches Schwätzchen und so erfuhr ich nach und nach die Geschichte des alten Hauses und seine Glanzzeiten.

Das Haus wurde von der Firma Müller und Feder im Jahr 1895 erbaut. Herr Müller, der Erbauer des Hauses verstarb sehr früh.

Sein Erbe, Hans Müller, baute noch das Brennhaus, den heutigen Zähringer Hof und verzog dann alsbald nach Freiburg. Der Mitinhaber der Firma, Herr Feder, führte dann die Geschicke der Firma Presshefefabrik allein weiter. Er stellte einen Direktor ein, Herrn Hartmann, der von nun an die Firma leitete und diese auch noch nach dem Verkauf der 1912 weiterführte. Herr Feder baute sich das Haus am OEG-Bahnhof und hatte auf dem Gelände der früheren Gärtnerei Lederle einen Reitplatz.

Ich möchte nicht vergessen zu erwähnen, dass Karl Feder sehr sozial eingestellt war. Er hat sehr viel für die Bürger von Großsachsen getan. Er half seinen Arbeitern beim Bau ihrer Häuser, siehe Luisenstraße und Hohensachsener Straße. Beim Bau der Hundskopfhütte hatte er sich auch finanziell mit einem größeren Geldbetrag beteiligt. Die drei wunderschönen Kirchenfenster in der evangelischen Kirche, die er 1906 gestiftet hatte, sind leider, leider, wer weiß warum, in den Turm verbannt worden. Ich finde, dass hat die Kirche zum Teil ihres Flairs beraubt.

Aber nun genug über die Erbauer, zurück zum Rathaus selbst. Es war das erste dreistöckige Haus in Großsachsen, was massiv aus Sandstein gebaut worden war. Für diese Zeit hatte es schon fast städtischen Charakter: große Fenster, helle und große hohe Räume, breite Steintreppen, Terrasse usw. Das Haus hat zwei Eingänge,  den vorderen Haupteingang für die Bewohner, den hintere für die Lieferanten und Bediensteten.

Wenn man das Haus vom Hauptportal aus betritt, kommt man in einen kleinen Vorraum, der durch zwei Schwingtüren vom Flur abgetrennt ist, beide mit schönen Glasscheiben im Jugendstil. Auch die Bodenfliesen sind noch original erhalten. Vom geräumigen Flur aus hat man Zutritt zu den verschiedenen Zimmern und dem Treppenhaus. Die zwei Zimmer links von dem Hauptflur waren früher die Direktionszimmer, später das Bürgermeisterzimmer und das andere das Zimmer des Kämmerers, heute das Sozialamt. Rechts im Flur ist wieder eine große, zweiflügelige Tür, die zum damaligen Herrensalon führt, später Sitzungssaal des Gemeinderates. Geradeaus, der große Raum, soll so etwas wie das Speisezimmer und der Frühstücksraum gewesen sein. Von da aus konnte man den Wintergarten betreten und in den Garten gehen. Diese Räume waren später das Büro der Verwaltungsangestellten und das Archiv. Der Garten nahm einen großen Teil des heutigen Parkplatzes ein. In der Mitte stand ein großer Pavillon aus Schmiedeeisen, der früher einmal mit Rosen berankt gewesen sein soll. Der Garten war auch vor der Markthalle über ein großes, zweiflügeliges Eisentor zugänglich.

Weiter geht man vom Flur aus die breiten Sandsteintreppen hoch und kommt in den ersten Stock. Die Flurfenster sind noch in ihrer Originalverglasung erhalten. Die Treppen waren mit rotem Sisalteppich belegt, die mit Messingstangen gehalten wurden. Am Treppenende stieß man auf einen querlaufenden Flur, von dem man Zugang zu allen Zimmern hatte inklusive der Terrasse. Hier waren das elterliche Schlafzimmer mit anschließender Ankleide und durch den Damensalon ca. 55 Quadratmeter groß mit Parkettboden, der noch heute erhalten ist. Danach anschließend die Kinderzimmer, auch mit einer kleinen Ankleide. Diese wurden später durch Abschlüsse getrennt, so dass hier zwei Wohnungen entstanden. Auch hatte das Haus zur damaligen Zeit schon den Luxus von drei Wasserklosetts, eine Seltenheit.

Dann geht es über die Treppeabsätze in den zweiten Stock. Hier waren die Gesindezimmer (Bediensteten). Das waren drei Räume mit einem großen Flur. Es gab noch zwei weitere Zimmer, die speziell für die männlichen Angestellten waren. Sie waren beide durch externe Eingänge getrennt. Moralisch wäre es zu dieser Zeit nicht möglich gewesen, dass alle den selben Eingang benutzt hätten.

Es ist schon paradox, dass 100 Jahre später in diesen früheren Gesindezimmern einer sitzt und die Geschichte des alten Hauses nach den Erzählungen der Tochter des Hauses aufschreibt. Das hätten sich die Erbauer bestimmt nicht gedacht.

Einen Streifzug durch das Haus, so wie es nach dem Brand 2003 renoviert wurde, können Sie hier machen. Bitte klicken Sie auf das jeweilige Bild, wenn Sie es vergrößern möchten.
 

Vorderansicht Haupteingang Hintereingang Steintreppe
Schwingtüren Verglasung Fenster Verglasung
Türen 1. Stock Holztreppe zum 2. Stock von oben gesehen

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Die Zimmer im Parterre und im ersten Stock wurden mit sehr großen Öfen, ca. 2 Meter hoch, einen habe ich noch selbst gesehen, schön mit Kacheln verkleidet, beheizt. Es war die Arbeit der Bediensteten, jeden Morgen diese Öfen wieder neu zu füllen, sodass es im Parterre und im ersten Stock immer schön warm war.  In den Gesindezimmern weiß ich nichts über die Beheizbarkeit, da habe ich nicht nachgefragt. Der letzte dieser Öfen wurde nach meinem Einzug aus dem Damensalon entfernt. Er wog etwa sieben Zentner. Ich weiß noch, dass die Leute unheimliche Probleme hatten, dieses schwere Monstrum die Treppen hinunter zu bringen.

Auch erzählte mir die Tochter des Hauses, dass sie und ihre Schwester in England auf die Höhere Töchterschule geschickt wurden, um die Hauswirtschaft zu erlernen. Nur ihr Bruder durfte studieren, der dann auch in Heidelberg promovierte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wenn sie zu uns kam mit einem kleinen Teller und einigen kleinen Gebäckstücken und sagte: „Herr Eck, Sie müssen unbedingt mal kosten.“ Ich kann nur jedem Leser sagen, die Frau konnte wunderbar backen.  Wenn ich sie fragte: „Wo haben Sie das gelernt?“, dann sagte sie immer „In England, auf der Schule.“ Ich war damals noch zu jung, um mir die Rezepte aufzuschreiben. Schade, Schade. Das Gebäck und die Kuchen schmeckten fantastisch, so etwas ist heute kaum noch zu finden.

Auch ist das Rathaus großzügig unterkellert. Der sehr, sehr große Keller ist in zwei Teile unterteilt. Der hintere Teil liegt etwas tiefer und wurde als Brennmaterial-Vorratsraum benutz. Hier wurde der Koks über eine Rutsche in den Keller gebracht. Der heutige Anbau, der von der Polizei früher benutzt wurde, war damals noch nicht vorhanden, so dass von hier aus das Brennmaterial ohne Probleme in den Keller gebracht werden konnte. Der vordere Teil war der Weinkeller, wo auch das Eingemachte, Kartoffel, Kraut und Rüben, wie sie mir erzählte, untergebracht waren.

Wie mir erzählt wurde, wurden des Öfteren Festlichkeiten veranstaltet, wo sich dann die Honoratioren mit ihren Ehefrauen trafen. Es wurde dabei beraten, was das Geschäftliche und das Dorfleben betraf. So ein Fest bedurfte zwei Tage Vorbereitung und es gab alles, was Küche und Keller zu bieten hatten. Nach einem opulenten Essen mit mehreren Gängen, wurden die Damen in den ersten Stock geschickt, wo die Dame des Hauses ihren Salon hatte. Hier wurde über die Neuigkeiten, Mode und sonstiges Gerede im Dorf geplaudert. Die Kinder durften bei diesen Treffen der Damen und Herren nicht dabei sein. Bei den Herren lief es ähnlich ab. Die Tochter des Hauses erzählte mir, dass während die Männer miteinander redeten, sie eifrig dem Wein und Tabakgenuss frönten. Das waren die Worte, die sie gebrauchte, nicht Rauchen oder Trinken. Manchmal wurde es auch laut im Herrensalon. Anscheinend war man dann nicht einer Meinung, aber nach zehn oder zwanzig Minuten war man sich dann wieder einig, wenn die Herren wieder lachten und fröhlich waren. Nach ungefähr drei Stunden ihres Disputs sah man sie im Garten auf und abgehen, um die vom Wein und Tabakgenuss erhitzten Köpfe abzukühlen. Die Kinder sahen dann die Herren in einer Runde stehen, wo sie sich vor Lachen kaum an sich halten konnten. Wahrscheinlich hat man sich dann irgendwelche Zoten erzählt.

Es kam auch vor, dass Herr Feder ein oder zwei seiner Kutschen vorfahren ließ. Dann fuhren die Herren über Land, was manchmal bis zum nächsten Morgen dauern konnte. Ihr Vater war an so einem Tag ziemlich unleidlich. Wenn sie ihn dann fragte, was denn los sei, meinte er, bei dem Destillat, was sie genossen hätte, muss etwas falsch gewesen sein, aber das würde schon wieder werden. Sie solle sich keine Sorgen machen. Am nächsten Tag war er auch wieder der Alte.

Die Erziehung der Kinder oblag der Mutter. Die Schule, Kleider, Herzensbildung und das Studium ihres Bruders. Nur bei ganz großen Entscheidungen hatte der Vater das letzte Wort.

Gab es einmal bei den Kindern Kummer oder Sorgen, dann sagte die Mutter immer, dies sei kein Grund, die Contenance zu verlieren und sich in Tränen aufzulösen. Das nächste mal müsse man halt besser aufpassen.

Eine ältere Frau hier in Großsachsen meinte: „Die Hartmanns, das war eine sehr vornehme und feine Familie.“ Also stimmte doch alles, was ich erzählt bekommen hatte. Was ich nicht wusste war, dass sie eine geborene Hartmann war. Ich konnte keinen Bezug zu Müller & Feder herstellen, bis mit die alte Dame aus Großsachsen die Zusammenhänge erklärte.

Einige Zeit später zogen wir dann in den zweiten Stock, sodass der Kontakt etwas weniger wurde. Bald darauf zog sie auch von Großsachsen weg. So ging eine Ära des Hauses zu Ende und eine neue begann. Die Firma Müller & Feder ging ihrem Ende zu und wurde von der Bast AG übernommen. Das Haus wurde dann im Jahre 1928 von der Gemeinde Großsachsen gekauft und zum Rathaus umfunktionier. Die Außenbeschriftung RATHAUS über dem Hauptportal, für jeden gleich sichtbar, wird noch lange daran erinnern. Die oberen Stockwerke waren als Wohnungen vermietet und im Parterre und im seitlichen Anbau residierten die Gemeindeverwaltung und die Polizei, die später ins Rathaus einzog, aber inzwischen schon wieder aufgelöst wurde.

Das Rathaus war Mittelpunkt des Ortes und der Gemeindeverwaltung, bis zum Mai 1993, als das neue Rathaus in Leutershausen eingeweiht und bezogen wurde. Dieses Haus hat schon viel gesehen und erlebt. Bewohner wurden hier geboren und starben. Es hat zwei Kriege unbeschadet überstanden und sogar den verheerenden Dachstuhlbrand im Mai 2003. Ich hoffe, dass es weitere hundert Jahre bestehen bleibt und wie damals seine Erbauer und jeweiligen Bewohner, beschützt  vor Hitze, Kälte und sonstigen Unbill.

Ich möchte hier der Vollständigkeit halber einen Bericht von Erich Dallinger anfügen, den er im Mai 1993 anlässlich der Ratshauseinweihung schrieb und danke ihm für die Genehmigung, ihn hier veröffentlichen zu dürfen.

Willi Eck

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